Schwäbische Zeitung: Unglückliche Verhältnisse - Leitartikel
Leutkirch (ots)
Die Deutschen sind unter die Kreuzfahrer gegangen: Mehr als 1,6 Millionen Menschen buchten im vergangenen Jahr eine Urlaubsfahrt auf einem Schiff. Die Branche freut's, zwei Milliarden Euro setzten die deutschen Kreuzfahrt-Anbieter 2011 um. Doch jetzt steht die Branche Kopf: In England geben internationale Vertreter eifrig Pressekonferenzen zur Sicherheit auf Schiffen, und bei der CMT in Stuttgart lassen die Anbieter ihre Infostände vorsichtshalber unbesetzt. Wer nicht da ist, muss auch keine Fragen beantworten.
Unterdessen blicken wir entsetzt nach Italien: Vor der Küste Giglios versuchen Rettungstaucher das Unmögliche: Sie hoffen, dass auch sechs Tage nach dem Unglück irgendwo in dem zerstörten Luxusliner Menschen überlebten. Mit jeder Stunde, die verstreicht, wird die Lage aussichtsloser. Immer noch sind zwölf Deutsche vermisst, auch von der Urlauberin dem Kreis Biberach fehlt jede Spur.
Sicher aber ist: Mindestens elf Menschen mussten bei dem Unglück sterben. Sicher ist auch: Der Kapitän hat versagt. Wie schwer seine Schuld wiegt, entscheiden am Ende Gerichte. Die moralische Verantwortung trägt er schon jetzt. Allerdings hat noch keine Verurteilung des Schuldigen eines vermocht: den Verlust von Menschenleben zu ersetzen.
Hierzulande leiden viele mit den Hinterbliebenen und den bangen, hoffenden Angehörigen. Viele fragen sich auch, ob sie selbst eine Kreuzfahrt buchen würden oder eher nicht. Dabei sollten wir uns vielmehr beschämt fragen, warum uns ausgerechnet dieses Unglück so nahe geht, die dramatischen Schiffsunglücke, die sich alle paar Wochen vor Lampedusa oder der Küste Arabiens ereignen, aber nicht? Dort ertrinken viel mehr Menschen. Menschen, die unter elenden Bedingungen Wochen auf See aushielten, ohne Bordpersonal, ohne Sicherheit, ohne Wasser, in der vagen Hoffnung, in Europa eine lebenswerte Zukunft zu finden. Viele dieser Fahrten enden in Tragödien, die weit schlimmer sind als das, was vor der Küste Italiens geschieht.
Stimmen also unsere Verhältnisse noch? Sind wir so abgestumpft? Wie kommt es, dass wir, "interessante" von "unwichtigen" Tragödien unterscheiden? Die Antwort ist - ohne die großen Ethiker zu bemühen - entsetzlich einfach: Unser Leben gleicht eher einer Kreuzfahrt als einer Flucht. Das begrenzt das Vorstellungsvermögen und schränkt die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, ein. Dies ist beschämend, wenn auch nachvollziehbar. Gut ist es deswegen nicht.
So bleibt unterm Strich der schnöde Appell, sich in Anstand und Zurückhaltung zu üben: Jeder Tote ist beklagenswert. Daran sollten wir uns beim nächsten Flüchtlingsunglück erinnern.
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