Schwäbische Zeitung: Kretschmann: "Es geht mir nahe, wenn ich als Verräter tituliert werde"
Leutkirch (ots)
Die Schwäbische Zeitung (Leutkirch) berichtet in ihrer morgigen Ausgabe (Samstag, 24.3.2012):
(Abdruck frei ohne Sperrfrist bei Nennung der Quelle)
Stuttgart - Ein Jahr nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg zieht Regierungschef Winfried Kretschmann im Gespräch mit der "Schwäbischen Zeitung" Bilanz. Der Grüne aus Sigmaringen-Laiz spricht über die Rolle der Opposition in Stuttgart, über die Erfolge und die Fehler seines knappen ersten Jahres im Amt. Im neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck sieht Kretschmann einen Verbündeten, der für einen anderen Politikstil stehe. Auch Kretschmann selbst möchte eine neue Art des Umgangs mit den Anliegen der Bürger pflegen und spricht offen über seine Gefühle als Politiker: "Es geht mir nahe, wenn ich als Verräter tituliert werde". In der bevorstehenden Haushaltssanierung sieht der Ministerpräsident die Herausforderung der kommenden Jahre, und er warnt, dass er sicher Menschen werde enttäuschen müssen. Der praktizierende Katholik Winfried Kretschmann erklärt seinen Glauben und konstatiert gelassen: "Man kann als Politiker scheitern. Dann scheitert man aber noch nicht als Mensch vor Gott und seinen Lieben."
Das Interview im Wortlaut:
"So reden können wie Joachim Gauck würde ich auch gerne" Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die Härten des Regierens, seinen Glauben und seinen Respekt vor dem neuen Bundespräsidenten
Stuttgart - Es war kein leichtes, aber ein spannendes Jahr mit Höhen und Tiefen. Im Interview in seinem Büro im Stuttgarter Landtag spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auch darüber, wie sehr er den neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck schätzt. Mit ihm sprachen Herbert Beck, Stefanie Järkel, Hendrik Groth und Christoph Plate.
SZ: Herr Ministerpräsident, wie fühlen Sie sich nach einem Jahr als "Landesvater"?
Kretschmann: Ich bin zufrieden. Es läuft im Großen und Ganzen gut und rund. Im Kabinett herrscht ein gutes Arbeitsklima. Erste wichtige Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag sind umgesetzt. Der Konflikt um Stuttgart 21 ist durch den Volksentscheid beendet und auch weitgehend befriedet. Jetzt kommen andere politische Themen, die wir anpacken wollen, und die haben es teilweise in sich. Wir können zum Beispiel nicht den Haushalt sanieren, ohne dass es jemand merkt oder ohne dass es jemanden schmerzt.
SZ: Manche Kritik ist ja schon sehr heftig. Bei Ihrem Neujahrsempfang wurde ein Schuh nach Ihnen vorgeworfen. Haben Sie sich die Amtsführung leichter vorgestellt?
Kretschmann: Nach der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 war mir schon klar, dass es Menschen gibt, die den Protest zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Denen fällt es sehr, sehr schwer, das Ergebnis zu akzeptieren. Es geht mir nahe, wenn ich auf Plakaten als Verräter tituliert werde. Andere Dinge wie jetzt die massive Kritik auf der Protestveranstaltung des Beamtenbundes wegen des Sparbeitrages fand ich dagegen einfach überzogen und maßlos.
SZ: Können Sie mit dem Begriff Landesvater gut leben?
Kretschmann: Ich gebe zu, am Anfang hatte ich damit Probleme, weil der Begriff im Kern sehr paternalistisch ist. Aber man kann sich auch nicht auf Dauer dagegen wehren, wenn sich die Bevölkerung so jemanden wünscht. Ich habe den Begriff jetzt positiv angenommen. Ich interpretiere ihn so, dass viele Menschen in Zeiten, in denen sie tief sitzende Ängste haben, mehr Besonnenheit und nicht diese sterile Aufgeregtheit der Tagespolitik erwarten.
SZ: Inwiefern verändert sich im Amt die die Sicht auf die Probleme, die Sie früher beschrieben haben und die Sie jetzt lösen müssen?
Kretschmann: Das ändert sich grundsätzlich nicht. Wir haben eine Oppositionspolitik gemacht, die dem Maßstab gefolgt ist, nichts zu verlangen, was man selber nicht machen könnte. Allerdings stellen sich in der Praxis doch viele Dinge schwieriger dar. Die Umsetzung dauert oft länger, als ich es aus der Opposition heraus eingeschätzt habe.
SZ: Zum Beispiel?
Kretschmann: Nehmen Sie mal den Ausbau der Windkraft. Wir haben die Frist im Landesplanungsgesetz erheblich verlängern müssen, weil die Kommunen nicht so schnell alle Pläne umändern können. Da merke ich dann schon, dass das Geschäft des Regierens zäher ist, als ich dachte.
SZ: Wie können Sie das den Wählern vermitteln, die auf schnelle Änderungen eingestellt waren?
Kretschmann: Das kann schon gelingen. Schwieriger ist, dass wir bei dieser Haushaltslage nicht alles, was im Koalitionsvertrag steht, so schnell und stringent umsetzen können, wie wir das angekündigt haben. Der Kassensturz hat gezeigt, dass die Vorgängerregierung uns ein gewaltiges Defizit hinterlassen hat. Es liegt jetzt bei uns, diese Lücken zu schließen.
SZ: Was war im vergangenen Jahr für Sie der schönste und was der schwierigste Moment?
Kretschmann: Der schwierigste Moment war das Ergebnis des Volksentscheids zu Stuttgart 21. Das musste ich als jemand, der jahrelang politisch gegen das Projekt gekämpft hat, erst einmal verkraften und akzeptieren. Ich musste umschalten. Der schönste Moment war sicher der große Konsens in der Ministerpräsidentenkonferenz zur Energiewende. Da ist es wirklich gelungen, in 14 Punkten Einstimmigkeit zu erzielen, und daran konnte ich kräftig mitwirken. So ein Erfolgserlebnis beflügelt.
SZ: Sie sind ja ein sehr gottesfürchtiger Mensch. Gab es in diesem ersten Jahr einen Moment, wo Ihnen der Glaube besonders viel Kraft gegeben hat?
Kretschmann: Ich gehöre nicht zu der Gruppe von Christen, die denken, dass Gott laufend als eine Art Oberverwalter ins Geschehen eingreift. Mein Glaube gibt mir die Gelassenheit aber auch die Leidenschaft, mich einzubringen. Ob etwas gelingt, hängt schon von einem selber ab, aber man hat es nicht allein in der Hand. Gelassenheit heißt, das Scheitern nie auszuschließen. Man kann als Politiker scheitern, dann scheitert man aber noch nicht als Mensch vor Gott und seinen Lieben.
SZ: Wie stark haben Einflüsse wie die Atomkatastrophe von Fukushima oder auch der Stil Ihres Vorgängers Stefan Mappus dazu beigetragen, Ihnen die Führung im Land zu ermöglichen?
Kretschmann: Beides hat zu dem Erfolg beigetragen. Unsere kritische Haltung zur Atomenergie hat sich als richtig erwiesen. Wir haben ja schon nach Tschernobyl gesagt, dass wir in diesem Energieträger keine Zukunft sehen. Aber man lebt immer auch von den Schwächen des Gegners. Sicher hat der Stil, den Mappus gepflegt und der bis tief in das konservative Lager hinein keinen Anklang mehr gefunden hat, uns geholfen. Die Methode, wenn ich an den EnBW-Deal denke, fast schon geheimbündlerisch Politik am Parlament vorbei zu machen, hatte sich überlebt.
SZ: Was machen Sie anders?
Kretschmann: Die größte Erwartungshaltung an mich persönlich liegt darin, ob die Politik des Gehörtwerdens glaubwürdig gelingt. Ich will und muss ja trotzdem Politik gestalten, ich will ja aus dem Land nicht den größten Debattierclub aller Zeiten machen.
SZ: Erwarten Sie bei diesem Stil Unterstützung vom neuen Bundespräsidenten?
Kretschmann: Ja. Unbedingt. Ich kenne Joachim Gauck schon aus seiner letzten Kandidatur. Da gibt es schon eine gewisse Geistesverwandtschaft. Sein Thema Freiheit in Verantwortung sagt aus, dass alle Verantwortung tragen. Ich sage immer, wir müssen das Verhältnis von Markt, Staat und Bürgergesellschaft neu ordnen. So eine Regel wie "privat vor Staat", für die etwa die FDP steht, ist völlig veraltet. Schauen Sie sich in der Welt um. Nur dort, wo es eine starke Zivilgesellschaft gibt, gibt es auch starke Demokratien. Ich glaube, dass der Bundespräsident und ich ganz auf einer Linie liegen, ohne dass wir ein Bürgerparadies versprechen.
SZ: Können Sie von ihm etwas abschauen?
Kretschmann: So reden können wie er würde ich auch gerne. Sich auf so einem hohen Niveau druckreif, strukturiert und einladend auszudrücken, ohne dass das gestelzt wirkt, um diese Gabe beneide ich ihn. Wenn ich ihn reden höre, dann gacksen wir anderen alle im Vergleich dazu.
SZ: Was hat es zu bedeuten, dass zwei der prominentesten Politiker im Land, Herr Gauck und Sie, Christen sind?
Kretschmann: Mir fällt dazu ein Satz von Nietzsche ein, der gesagt hat, die Christen sähen alle so unerlöst aus. Ich hoffe, dass Gauck und ich ausstrahlen, dass wir schon ein Stück erlöst sind, nicht nur aufgrund unseres Glaubens, sondern auch aufgrund unseres Alters, und dass wir Zutrauen und Zuversicht verbreiten können - bei allen Defiziten, die es auf der Welt gibt.
SZ: Eine Binsenweisheit der Politik ist, unangenehme Entscheidungen am besten zu Beginn einer Legislaturperiode über die Bühne zu bringen. Wie viel davon haben Sie bereits abgearbeitet, was steht noch an?
Kretschmann: Wie schon gesagt, die unangenehmen Entscheidungen kommen mit der Haushaltssanierung erst noch auf uns zu. Dafür müssen wir bei der Bevölkerung werben. Wir machen das ja nicht, um sie zu ärgern, wir machen das, um auch unseren Nachkommen Gestaltungsfähigkeit zu ermöglichen. Aber ich bin überzeugt, dass wir uns auf vernünftige Dinge einigen können. Dazu gehört auch, dass man Menschen enttäuschen muss. Das geht mir dann schon nach. Aber das muss man aushalten.
SZ: Wer aus Fehlern lernen will, muss Fehler erkennen. Welcher Fehler ärgert Sie am meisten?
Kretschmann: Das mit den Regierungspräsidenten.
SZ: Was lief da schief?
Kretschmann: So etwas muss man am Anfang machen. Ich habe gemerkt, die Rolle der politischen Beamten versteht vielleicht ein Promille der Bevölkerung. Man bekommt das nicht mehr erklärt, wenn der Eindruck entsteht, da wird ein netter Mann entlassen. Aber diese Menschen müssen nicht nur loyal sein, sie müssen, so steht es im Gesetz, mit der Regierung auf einer Linie sein. So einen Austausch muss man im Schwung des Regierungswechsels machen.
SZ: Sie sagen, im Kabinett geht es freundschaftlich zu. Nach außen sieht das nicht immer so aus. Liebesheirat oder Zwangsheirat?
Kretschmann: Der Begriff Liebesheirat ist mir in einer bestimmten Situation entschlüpft, und das bereue ich. Wir sind zwei unterschiedliche Parteien, wir leben in einer Konkurrenzdemokratie. Eine Koalition kann immer nur eine Vernunftehe sein. Wir haben eine gute Atmosphäre im Kabinett. Zwischen der SPD-Fraktion und der Landesregierung geht es schon mal lauter und unrunder zu. Da lag die Tonalität bei den Beamten doch sehr weit auseinander.
SZ: Fürchten Sie nicht, dass die Sozialdemokraten nervös werden, wenn es bei den für die SPD nicht so guten Prognosen bleibt?
Kretschmann: Es kommt darauf an, ob diese Konstellation in den nächsten vier Jahren gut regiert. Wir regieren ja gegen die stärkste Partei im Land. Insofern erwarten die Leute, dass sie auch handwerklich gut regiert werden. Eine Konfliktkoalition funktioniert hier schon gar nicht, weil die CDU über ein großes Netzwerk und eine starke kommunale Basis verfügt. Auf Distanz geht man in so einem Bündnis auf Zeit wieder kurz vor den Wahlen, aber nicht im ersten Jahr.
SZ: Wie nehmen Sie die Opposition wahr? Hat die CDU zur Gänze die neue Rolle schon angenommen?
Kretschmann: Regieren muss man vom ersten Tag an können, Opposition nicht. Man muss ja erst mal keine Entscheidungen treffen. Man konnte sich im Land ja 58 Jahre lang gar nichts anderes vorstellen als eine Regierung mit der CDU. Das ist natürlich ein tiefer Schock. Bis jetzt hat mich die Opposition noch nicht sehr gefordert. Das darf sich ruhig ändern. Eine starke Opposition verhindert, dass man übermütig wird.
SZ: Das Land feiert in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen. Wie bereiten Sie die Feierlichkeiten vor?
Kretschmann: Es soll ein Bürgerfest werden. Wir sind so stark, weil wir unter allen Ländern mit Abstand die meisten Menschen haben, die sich freiwillig engagieren. Nicht nur unser hervorragender Mittelstand, die großen Firmen oder das Stuttgarter Ballett zeichnen uns aus. Diese unglaublich engagierten Bürger sind faszinierend. Gerade das hat ja auch den neuen Bundespräsidenten stark beeindruckt und dazu bewogen, sich so einen gesellschaftlichen Konsens auch in den neuen Ländern zu wünschen.
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