Schwäbische Zeitung: Welch ein Privileg! - Leitartikel
Ravensburg (ots)
Wissen Sie, was uns von einem Land wie Russland unterscheidet? Ja, die trinken mehr Wodka. Oder von einem Staat wie Nordkorea? Sicher, dort haben sie Hunger. Oder von Zimbabwe? Natürlich, im südlichen Afrika ist es wärmer. Und von Katar? Klar, die haben das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Der wichtigste Unterschied aber ist, dass in all diesen Ländern ein jeder Gefahr läuft im Gefängnis zu landen, der eine inopportune Meinung äußert, wenn er etwa freie und faire Wahlen fordert.
Der Urnengang, zu dem am Sonntag 61,8 Millionen Deutsche aufgerufen sind, ist ein Privileg, von dem Hunderte Millionen andernorts nur träumen können. Nun wird in Deutschland das Privileg in geheimen und freien Wahlen seine Volksvertreter wählen zu können, vielerorts als lästige Selbstverständlichkeit angesehen. Manche Menschen sind politikmüde. Natürlich geben Politiker Anlass auf sie zu schimpfen. Aber in einer Demokratie, in der die Volksvertreter frei gewählt werden, können diese nur so gut sein wie die Gesellschaft, aus der sie kommen.
Der frühere tschechische Außenminister Karl Fürst zu Schwarzenberg hat einmal erklärt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Besten in die Politik gegangen seien. Nach Zerstörung und Vernichtung hätten sie sich für Wiederaufbau und Versöhnung eingesetzt. Heute, so Schwarzenberg, würden die Besten in die Privatwirtschaft gehen, weil es dort mehr zu verdienen gebe und man nicht ständig angefeindet werde. Es stimmt wohl, dass, wer heute Angela Merkel reden hört, sich schon mal nach Konrad Adenauer oder nach Helmut Schmidt zurücksehnen mag. Die führten und gaben den Bürgern auch noch kluge Gedanken mit auf den Weg. Wenn es aber der Politik heute an Tiefe mangelt, spiegelt das eine Gesellschaft, in der Empörung und Befindlichkeit oft wichtiger sind als der konstruktive Streit.
Wer das ändern möchte, sollte Politik machen. Zumindest aber sollte er am Sonntag zur Wahl gehen.
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