Schwäbische Zeitung: Emanzipation von Erdogan - Leitartikel
Ravensburg (ots)
Es wäre nach diesem Wahlergebnis verlockend zu sagen: diese Türkei lieben wir.
Wo in mit Spannung erwarteten Wahlen der Mann abgestraft wurde, der das Land zwar wirtschaftlich hat gesunden lassen, es aber auch in einer Präsidialdiktatur umwandeln wollte. Die Wahlanalysten in der Türkei sagen mehrheitlich, dass es bei diesem Urnengang, an dem 86 Prozent der Wähler teilnahmen, den Menschen weniger darum gegangen sei, die islamistische AKP-Partei zu schurigeln, sondern den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der kann nun nicht durchregieren, er muss eine Koalition bilden, Kompromisse machen, anderen zuhören.
Der Mann aus einfachen Verhältnissen hat vielen Türken in den vergangenen dreizehn Jahren einen Lebensstandard beschert, der vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Aber er hat eben auch in einer gefährlichen Mischung aus Sendungsbewusstsein, Arroganz und Größenwahn verkannt, dass längst nicht alle Türken mit ihm einverstanden sind. Seine Versuche, zunächst als Ministerpräsident, dann als Staatschef, die Medien und die Justiz zu behindern, haben die Menschen ebenso verschreckt wie manches gigantische Bauprojekt.
Das Land zwischen Ägäis und iranischer Grenze hat mit dieser Wahl seine demokratischen Strukturen gestärkt. Dass die kurdische Partei HDP nicht nur Stimmen von Kurden bekam und ins Parlament in Ankara einzieht, ist ein Schritt zum innergesellschaftlichen Frieden.
Aber jetzt gilt es auch für Europa wachsam zu sein: gelingt es nicht innerhalb von 45 Tagen eine Koalition zu bilden, müssen Neuwahlen abgehalten werden. Erdogan hat schon im vergangenen Wahlkampf gezeigt, wie er gedenkt mit medialem Dauerfeuer und Wahlgeschenken die Wähler gefügig zu machen. Gedankt haben sie es ihm glücklicherweise nicht. Was in den nächsten Wochen in der Türkei geschieht, kann entscheidend werden für die Zukunft. Und für das Verhältnis der europäischen Partner zu diesem Land.
Die Emanzipation der Türkei von Erdogan lässt Europa hoffen.
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