Schwäbische Zeitung: Leitartikel: Die Zeit wird nicht angehalten
Ravensburg (ots)
Mancher mag darüber den Kopf schütteln: Die in der Nachkriegszeit wegen Homosexualität Verurteilten mussten bis zum Jahr 2016 auf eine Rehabilitation warten, wie sie Justizminister Heiko Maas (SPD) nun angekündigt hat. Wichtiger als die Verwunderung über die lange Zeitspanne ist jedoch, dass es überhaupt passiert. Verbunden mit der Botschaft, wie viel Mühe und Ausdauer es bedarf, eine offene Gesellschaft zu errichten und wie wichtig es ist, diese zu verteidigen. Heute ist es kaum vorstellbar, dass der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, erst 1994 abgeschafft wurde. Und selbst im Jahr 2002 hob der Bundestag zwar Urteile nach Paragraf 175 aus der NS-Zeit auf, konnte sich aber nicht durchringen, die Entscheidungen aus der Nachkriegszeit auch zu kassieren. Der Vorstoß des Justizministers bildet somit den Schlusspunkt eines harten Kampfes um Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, um ein weltoffenes Miteinander. Eines zähen Bemühens, wie es auf vielen Feldern stattfand und stattfindet, sei es im Arbeitsleben, bei der Gleichstellung der Frau oder um den Frieden in Europa. Nun aber mehren sich Kräfte, die diese Errungenschaften infrage stellen. Die von einer "Schwulen-Lobby" in Berlin reden und die Mitbestimmung als Schwäche des Wirtschaftsstandorts abqualifizieren. Die den mit der NS-Ideologie verknüpften Begriff "völkisch" wieder salonfähig machen wollen. Und nicht zuletzt wollen diese Kräfte auch nationale Grenzen wieder hochziehen, das Miteinander durch ein Gegeneinander ersetzen. All jenen, die mit Rechtspopulisten sympathisieren, sei die Frage gestellt: Wollt ihr wirklich nach einem Gesellschaftsbild leben, wie es diese Gestrigen zeichnen? Wer darauf nur eine zögerliche Antwort findet, dem sei gesagt: Die hart erarbeiteten Werte einer offenen Gesellschaft sind nicht verhandelbar. Die Zeit wird nicht angehalten und sie wird schon gar nicht zurückgedreht. Und das gilt auch für Neuankömmlinge aus anderen Kulturen, die sich mit Gleichberechtigung und Emanzipation schwer tun.
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