Bürgerschaftswahl Hamburg: Wahlprogramme oft unverständlich
PRESSEMITTEILUNG DER UNIVERSITÄT HOHENHEIM
Bürgerschaftswahl in Hamburg 2020:
Wahlprogramme sind für viele Menschen unverständlich
Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim analysieren Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit und auf populistische Sprache.
Bandwurmsätze mit bis zu 101 Wörtern (AfD), Wortungetüme wie "Diversity-Mainstreaming-Strategie" (Grüne) und "Check-In/Be-Out-Verfahren" (SPD) oder Fachbegriffe wie "Aquiferspeicher" (Grüne) und "Distanzelektroimpulsgeräte" (FDP): Die Wahlprogramme der Parteien zur Bürgerschaftswahl in Hamburg sind für viele Laien schwer zu verstehen. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Hohenheim in Stuttgart. Und: Den größten Anteil populistischen Vokabulars weist das Programm der AfD auf.
"Parteien sollten ihre Positionen klar und verständlich darstellen, damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können. Dazu dienen die Wahlprogramme", betont der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Er hat mit seinem Team die Wahlprogramme zur Bürgerschaftswahl in Hamburg 2020 untersucht.
Wahlprogramme noch schlechter verständlich als bei Bürgerschaftswahl 2015
Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Wissenschaftler um Prof. Dr. Brettschneider unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen, Fremdwörtern und zusammengesetzten Wörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den "Hohenheimer Verständlichkeitsindex". Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).
Im Durchschnitt ist die Verständlichkeit der Programme zur Bürgerschaftswahl in Hamburg mit 7,8 Punkten noch niedriger als bei der letzten Bürgerschaftswahl im Jahr 2015 (8,8 Punkte). Hamburg liegt bei der formalen Verständlichkeit der Programme im Durchschnitt auf Platz 9 der 16 Bundesländer. Für Prof. Dr. Brettschneider sind diese Werte enttäuschend: "Alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf die Fahne geschrieben, doch mit derartigen Wahlprogrammen verpassen sie eine kommunikative Chance. Sie schließen einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus."
SPD und FDP mit der unverständlichsten Sprache, Die Linke am verständlichsten
Das formal verständlichste Wahlprogramm in Hamburg liefert Die Linke mit 9,3 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. 2015 hatte sie dort mit 8,2 noch den vorletzten Platz belegt. Die Linke ist auch die einzige Partei, deren formale Verständlichkeit seit 2015 besser geworden ist. Alle anderen Parteien haben sich verschlechtert. Die CDU folgt mit 8,0 Punkten auf Platz 2. Den letzten Platz teilen sich die SPD und die FDP mit jeweils 7,1 Punkten. Aus sprachlicher Perspektive sind ihre Programme am unverständlichsten.
"Alle Parteien könnten verständlicher formulieren", ist Prof. Dr. Brettschneider überzeugt. "Das zeigen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Die Themenkapitel sind hingegen das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den 'Fluch des Wissens'. Zudem nutzen Parteien abstraktes Verwaltungsdeutsch auch, um unklare oder unbeliebte Positionen zu verschleiern. In diesem Fall sprechen wir von taktischer Unverständlichkeit."
Verständlichkeitshürden schließen Wählerinnen und Wähler aus
"Evokationsrecht" (CDU), "light fidelity" (AfD), "Acceleratoren" (FDP), "EdTech-Coaches" (FDP), "Kryokonservierung" (FDP), "Al-Capone-Prinzip" (Grüne), "Aquiferspeicher" (Grüne), "rhythmisierten" (Linke), "FindingPlaces" (SPD) oder "Makerspaces" (SPD): Die Programme der Parteien enthalten zahlreiche Fremd- und Fachwörter. Vor allem für Leser ohne politisches Fachwissen stellen diese eine große Verständlichkeitshürde dar.
Einen ähnlichen Effekt hätten Wortzusammensetzungen oder Nominalisierungen, so Claudia Thoms, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kommunikationstheorie. Einfache Begriffe würden so zu Wort-Ungetümen, wie z.B. "Bodenentsiegelungsprogramm" (AfD), "Fußgänger-Lichtzeichenanlagen" (FDP), "Flüssigerdgas-Verteilterminals" (FDP), "Lebensbetrachtungszyklus" (Grüne) oder "Klimaroadshow" (SPD).
"Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis. Das gilt besonders für Wenig-Leser. Sätze sollten möglichst nur jeweils eine Information vermitteln", erklärt Thoms. "Der längste Satz findet sich im Programm der AfD mit 101 Wörtern. Aber auch bei allen anderen Parteien tauchen überlange Sätze auf. Sätze mit 30 und 40 Wörtern sind keine Seltenheit."
Populistische Sprache bei der AfD am häufigsten
Bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen vor wenigen Monaten haben die Hohenheimer Forscher erstmals auch die Verwendung populistischen Vokabulars untersucht. Diese Analyse haben sie nun auch in Hamburg und bundesweit rückwirkend bis 1990 durchgeführt. Dabei verwendeten sie die Anti-Elitismus-Dimension einer Wortliste von Rooduijn und Pauwels (2011). Sie zählten, wie oft Begriffe aus dieser Wortliste in den jeweiligen Wahlprogrammen vorkommen.
Die Wortliste besteht aus den folgenden Begriffen: elit*, konsens*, undemokratisch*, referend*, korrupt*, propagand*, politiker*, täusch*, betrüg*, betrug*, *verrat*, scham*, schäm*, skandal*, wahrheit*, unfair*, unehrlich*, establishm*, *herrsch*, lüge* (die Sternchen dienen als Platzhalter, um unterschiedliche Schreibweisen der Wörter und zusammengesetzte Wörter zu berücksichtigen).
Im Schnitt enthalten die Programme in Hamburg ähnlich häufig populistisches Vokabular wie die Landtagswahlprogramme aller Bundesländer seit 1990. Mit Abstand am populistischsten ist die Sprache der AfD in Hamburg. Dort ist sie sogar noch populistischer als in den Programmen der AfD in Thüringen, Brandenburg und Sachsen im letzten Jahr. Auf Platz 2 folgt die Linke.
"Populistische Rhetorik besteht natürlich aus mehr als aus einfachen Begriffen. Aber die untersuchten Begriffe sind gute und bewährte Indikatoren für Populismus", sagt Prof. Dr. Brettschneider. Gemein hätten Populisten unterschiedlicher Färbung, dass sie (1) das (eine, wahre) Volk als Gegenspieler einer (2) (entfremdeten, feindlichen) Elite begreifen. Typischerweise fokussierten Rechtspopulisten dabei vor allem auf kulturelle Themen (beispielsweise Migration), während Linkspopulisten eher ökonomische Themen in den Mittelpunkt stellten.
HINTERGRUND: Die Hohenheimer Wahlprogramm-Analyse
Das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie, an der Universität Hohenheim untersucht in seiner Langzeitstudie unter anderem folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?
Inzwischen haben die Wissenschaftler mehr als 700 Landtags-, Bundestags- und Europawahlprogramme analysiert. Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software "TextLab". Die Software wurde von der Ulmer Agentur H&H CommunicationLab und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).
Aus diesen Werten setzt sich der "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" zusammen. Er bildet die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Hörfunk-Nachrichten kommen im Schnitt auf 16,4 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.
Weitere Informationen
Kontakt für Medien
Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft
T 0711 459-24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de
Weitere Pressemitteilungen der Universität Hohenheim
Universität Hohenheim Pressestelle 70593 Stuttgart Tel.: 0711 459-22003 Fax: 0711 459-23289