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Landtagswahl NRW: Wahlprogramme bleiben schwer verständlich

Landtagswahl NRW: Wahlprogramme bleiben schwer verständlich
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PRESSEMITTEILUNG DER UNIVERSITÄT HOHENHEIM

NRW-Landtagswahl 2022:

Wahlprogramme bleiben für viele Menschen unverständlich

Hohenheimer Verständlichkeitsindex: Uni Hohenheim analysiert Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit. Seit der letzten Wahl haben die Parteien nicht dazu gelernt.

Bandwurmsätze mit bis zu 74 Wörtern (FDP), Wortungetüme wie „Krankenhausinvestitionskostenförderung“ (CDU) und „Bürger*innenmedien-Kompetenzprojekte“ (Grüne) oder Fachbegriffe wie „Hyperscaler“ (SPD), „Cashcamp“ (FDP), „Flowback“ (Linke) und „Purpose-Unternehmer*innentum“ (Grüne): Die Wahlprogramme der Parteien zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind für viele Laien schwer zu verstehen. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Kommunikationswissenschaftler:innen der Universität Hohenheim in Stuttgart.

„Parteien sollten ihre Positionen klar und verständlich darstellen, damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können. Dazu dienen die Wahlprogramme“, betont der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Er hat zusammen mit Dr. Claudia Thoms die Wahlprogramme zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2022 untersucht.

Wahlprogramme ähnlich unverständlich wie bei Landtagswahl 2017

Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Wissenschaftler unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen, Fremdwörtern und zusammengesetzten Wörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).

Im Durchschnitt ist die Verständlichkeit der Programme zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mit 8,2 Punkten so niedrig wie bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2017 (8,1 Punkte). Im Durchschnitt liegt Nordrhein-Westfalen damit bei der formalen Verständlichkeit der Programme im Mittelfeld der 16 Bundesländer.

CDU mit der verständlichsten Sprache, FDP am unverständlichsten

Das formal verständlichste Wahlprogramm in Nordrhein-Westfalen liefert die CDU mit 10,6 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. 2017 hatte sie dort mit 6,0 noch den letzten Platz belegt. Die Grünen und die Linke folgen mit 8,4 Punkten auf Platz 2. Den letzten Platz belegt die FDP mit 6,2 Punkten. Aus sprachlicher Perspektive ist ihr Programm am unverständlichsten sowie unverständlicher als 2017 (8,1).

„Alle Parteien könnten verständlicher formulieren“, ist Prof. Dr. Brettschneider überzeugt. „Das zeigen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Die Themenkapitel sind hingegen das Ergebnis innerparteilicher Fachgespräche. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’. Zudem nutzen Parteien abstraktes Verwaltungsdeutsch auch, um unklare oder unbeliebte Positionen zu verschleiern. In diesem Fall sprechen wir von taktischer Unverständlichkeit.“

Verständlichkeitshürden schließen Wählerinnen und Wähler aus

„Die häufigsten Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln sind Fremdwörter und Fachwörter, zusammengesetzte Wörter und Nominalisierungen, Anglizismen sowie lange Sätze und Schachtelsätze“, sagt Dr. Claudia Thoms. Verstehen alle Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen den Inhalt, wenn die Grünen von „One-Stop-Shop-Lösungen“ reden? Oder die CDU von „One-Stop-Agency“ und die FDP von „No-Stop-Agencies“?

Solche Anglizismen sind für die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler genauso unverständlich wie die zahlreichen Fachbegriffe: „Verkehrsbeeinflussungsanlagen“ (AfD), „Gamechanger-Instrumente“ und „Public Value-Privileg“ (FDP), „Hyperscaler“ (SPD), „Frack-Fluid“ (Linke) oder der „Gender-Budgeting-Ansatz“ (Grüne).

Darüber hinaus erhöhen lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme: „Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie“ (Linke), „Krankenhausinvestitionskostenförderung“ (CDU), „Bürger*innenmedien-Kompetenzprojekte“ (Grüne), „Datensouveränitätsanforderungen“ (FDP) sind einige Beispiele.

In allen Wahlprogrammen finden sich Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln. „Neben den Fremdwörtern, Anglizismen und Fachbegriffen sind es auch die Bandwurmsätze, die die Wahlprogramme so unverständlich machen“, sagt Dr. Claudia Thoms. „Wir haben in allen Wahlprogrammen solche Satz-Ungetüme mit teilweise mehr als 40 Wörtern gefunden.“ Besonders lang ist ein Satz im Programm der FDP: Er besteht aus 74 Wörtern.

Unverständliche Wahlprogramme – eine verschenkte Kommunikationschance

Mit der formalen Unverständlichkeit verschenken die Parteien eine Kommunikationschance bei den Bürgerinnen und Bürgern, stellt Prof. Dr. Brettschneider fest. „Obwohl nur sehr wenige Menschen die Wahlprogramme komplett durchlesen, sollen Wahlprogramme eigentlich dazu dienen, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen oder zu halten.“ Aus den Programmen leiten sich außerdem andere Kommunikationsmittel ab, die für eine Wahl wichtig sind, wie Wahlplakate, Homepage und Broschüren. „Selbst, wenn die Stimmberechtigten nicht das gesamte Programm lesen, so schauen sich einige von ihnen doch zumindest die Passagen an, die sich auf Themen beziehen, die ihnen wichtig sind“, sagt Prof. Dr. Brettschneider.

Zudem sind die Programme auch innerhalb der Parteien von Bedeutung, betont der Kommunikationsexperte. „Während der Arbeit am Programm klären die Mitglieder innerparteiliche Positionen und bündeln verschiedene Interessen. Der Parteiführung dient das Programm nach der Wahl als Grundlage für Koalitionsverhandlungen oder für die Arbeit in der Opposition. Entgegen landläufigen Behauptungen halten sich Parteien nach den Wahlen auch häufig an ihre Programm-Aussagen.“

Prof. Dr. Brettschneider betont jedoch: „Die von uns gemessene formale Verständlichkeit ist natürlich nicht das einzige Kriterium, von dem die Güte eines Wahlprogramms abhängt. Deutlich wichtiger ist der Inhalt. Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist. Und unverständliche Formulierungen bedeuten nicht, dass der Inhalt falsch ist. Formale Unverständlichkeit stellt aber eine Hürde für das Verständnis der Inhalte dar.“

Begriffsanalyse: Typische Sprachmuster

Neben „NRW“ und „Nordrhein-Westfalen“ gehören die Digitalisierung („digital“) und „Kinder“ zu den am häufigsten verwendeten Wörtern. Und alle Parteien wollen „stärken“, sprechen über „sollen“, „wollen“, „müssen“. „Eine Betrachtung der für die Wahlprogramme typischen Substantive, Eigennamen, Adjektive und Verben deutet auf die klassischen Themenschwerpunkte der Parteien hin“, sagt Dr. Claudia Thoms.

Bei der CDU kommen familien- und sozialpolitische Begriffe wie „Vereinbarkeit“, „Kinderbetreuungsmöglichkeit“, „Familiengründungszeit“ und „Kinderschutz“ vor. Auch forschungspolitische Aspekte kommen durch Begriffe wie „Spitzenforschung“, „Quantencomputing“, „Digitalisierungsoffensive“ und „Wissenschaftsstandort“ zur Sprache. Bei der SPD sind es insbesondere sozialpolitische Begriffe wie „Wohnungsgenossenschaft“, „Pflegestützpunkt“ oder auch allgemein „sozialdemokratisch“.

Bildungs- und Wirtschaftspolitik spiegeln sich bei der FDP in Begriffen wie „Schüleraustausch“, „Schuldienst“, „Familiengrundschulzentren“, „Schulfreiheit“ und „Gründerstipendium“ wider. Umwelt- und Sozialpolitik bilden den Schwerpunkt der Grünen-spezifischen Begriffe: „Klima-Check“, „Naturerbe“, „nachwachsend“, „Klimakrise“, aber auch „Mehrsprachigkeit“, „sozial-ökologisch“ und „Menschenrecht“ sind Beispiele hierfür.

Bei der Linken stechen vor allem arbeitspolitische und (meist kritisierte) kapitalismus-bezogene Begriffe heraus: „Profit“, „kommerziell“, „Kapitalismus“, „neoliberal“, „Erwerbslosigkeit“, „Leiharbeit“. Migrations- und kulturpolitisch sind bei der AfD Begriffe wie „Zuwanderung“, „Asylbewerber“, „Leitkultur“, „Staatsangehörigkeit“, „Islam“, „Kopftuch“ sowie „Ausreisepflichtige“.

HINTERGRUND: Die Hohenheimer Wahlprogramm-Analyse

Das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie, an der Universität Hohenheim untersucht in seiner Langzeitstudie unter anderem folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?

Inzwischen haben die Wissenschaftler mehr als 700 Landtags-, Bundestags- und Europa­wahlprogramme analysiert. Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software „TextLab“. Die Software wurde von der Ulmer Agentur H&H CommunicationLab und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Text­faktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z. B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).

Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen. Er bildet die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Hörfunk-Nachrichten kommen im Schnitt auf 16,4 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.

Weitere Informationen

Download Studie: https://bit.ly/3yubx2i

Kontakt für Medien

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft

T 0711 459-24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de

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