Mediterrane Netzwerke, korsische Clans und Marseille als Ort des Transits, PI Nr.04/2004
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Mediterrane Netzwerke, korsische Clans und Marseille als Ort des Transits
KI-gesteuerte Transportrouten, angepasste Stromversorgung per Mausklick, automatische U-Bahnlinien – Fortschritt in Technologie und Infrastruktur gilt Teilen der Gesellschaft als unerlässlich für die Zukunft, andere beunruhigt oder ängstigt dies. Manuel Borutta, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, forscht an der Universität Konstanz über Infrastrukturen im modernen Mittelmeerraum. Neue Infrastrukturen hatten in der Vergangenheit oft nicht absehbare Folgen politischer und wirtschaftlicher, aber auch kultureller Art. Wie wirkt sich dies bis heute aus?
Als die Mittelmeerinsel Korsika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an das französische Netz der mediterranen Dampfschifffahrt angebunden wurde, hatte dies für die insulare Wirtschaft verheerende Folgen: Die Insel wurde mit industriell gefertigten Lebensmitteln vom Festland, vor allem aus Marseille, regelrecht überschwemmt. „Dies ruinierte die insulare Landwirtschaft und führte zu einem Exodus junger Korsen“, sagt Manuel Borutta, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, und fügt hinzu: „Infrastrukturelle Vernetzung kann für eine Gesellschaft auch negative Folgen haben.“ An der Universität Konstanz forscht der Historiker im Rahmen eines neuen kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkts zu den kulturellen Dimensionen von Infrastrukturen.
Koloniale Diaspora à la Corse
Damals siedelten sich viele junge Korsen in Algerien und Teilen des französischen Kolonialreiches an, viele aber auch in der provenzalischen Stadt Marseille. In ihrer neuen „Heimat“ bildeten sie korsische Netzwerke, die Borutta als „kulturelle Infrastruktur“ des Imperiums bezeichnet. Der Historiker führt näher aus: „In Algerien lebten in den 1950er-Jahren rund 100.000 Korsinnen und Korsen. Diese waren in Militär, Verwaltung und Polizei stark überrepräsentiert. Zugleich blieb die koloniale Diaspora der Insel eng verbunden, vermischte sich kaum mit anderen Franzosen, sondern organisierte sich selbst, indem sie zum Beispiel landsmannschaftliche Vereine gründete, die korsische Interessen in Metropole und Kolonie vertraten, korsische Traditionen wie beispielsweise Sprache und Ernährung pflegte und die Verbindung zur Insel aufrechterhielt.“
Marseille wiederum war schon seit der Frühen Neuzeit eine Anlaufstelle auswandernder Korsen. Nach 1900 verwandelten sie das Panier-Viertel am Alten Hafen in ein korsisches Dorf. In den 1930er-Jahren schwang sich der aus Korsika stammende rechtspopulistische Politiker Simon Sabiani als Vizebürgermeister zu einer zentralen Figur der Lokalpolitik auf. Seine Machtbasis waren nicht nur die Korsen in der Stadt, denen er Arbeit und Wohnraum vermittelte, sondern auch Schlägertrupps und Gangster wie der ebenfalls aus Korsika eingewanderte Paul Carbone und der italienischstämmige François Spirito, die politische Gegner Sabianis durch Gewalt einschüchterten.
Im Gegenzug erhielten sie Zugriff auf die Präfektur, wo sie ihre Gefolgsleute platzierten, um sich vor polizeilicher Verfolgung zu schützen, den neuen Hafen von Marseille zu kontrollieren, von hier aus Prostituierte nach Lateinamerika zu exportieren und Opium aus Asien und dem östlichen Mittelmeerraum zu importieren, das in Marseille zu Heroin verarbeitet wurde. „Kulturelle Netzwerke und Konzepte wurden also genutzt, um politische Macht zu gewinnen und Verbrechen in globalem Maßstab zu organisieren“, so Borutta. „Die Kontrolle materieller Infrastrukturen (der neue Marseiller Hafen) und Carbones freundschaftliche Verbindungen zu korsischen Matrosen von Ozeanlinern, die als Schmuggler arbeiteten, spielten dabei eine wichtige Rolle. Immaterielle und materielle Infrastrukturen ergänzten sich wechselseitig.“
Diese Wechselwirkungen beider Formen von Infrastruktur interessieren den Historiker besonders: Materielle Infrastrukturen, wie in diesem Falle Kanäle, Dampfschiffe und Häfen, können kulturelle Transformationen auslösen: Prozesse der Einwanderung, der Segregation und der Vermischung, des Missbrauchs politischer Macht und eines Wandels der Repräsentation. Zugleich können kulturelle Praktiken und Netzwerke diese materiellen Infrastrukturen für eigene Zwecke nutzen, das heißt zweckentfremden.
Mafiöse Strukturen heute – ein Erbe der 30er-Jahre
Marseille gilt bis heute als eine der Problemstädte Frankreichs, als eine Hochburg der Drogenkriminalität. Das organisierte Verbrechen kann sich gewachsene kulturelle Infrastrukturen zunutze machen. „Dem französischen Staat ist es bisher nicht gelungen, die abgehängten Quartiers Nord mit seinen kulturellen Infrastrukturen zu durchdringen“, erklärt der Geschichtswissenschaftler. „Vielmehr hat er sich aus diesen Zonen zurückgezogen und die dort lebenden Menschen weitgehend sich selbst und den Drogenbossen überlassen, die dann zum Beispiel den Kindern der Familien, die sich einen Urlaub nicht leisten können, im Sommer aufblasbare Schwimmbäder bereitstellen, weil es einfach keine öffentlichen Schwimmbäder gibt. Das organisierte Verbrechen übernimmt hier Aufgaben des Staates, sorgt für Ordnung im Viertel und verteilt Ressourcen.“
Frankreichs Präsident Macron legte jüngst einen milliardenschweren Plan für Marseille, „Marseille en grand“, auf. Die Bedingung für massive staatliche Investitionen ist jedoch, dass die abgehängten quartiers im Norden der Stadt besser an das teilweise bereits gentrifizierte Stadtzentrum angebunden werden. Ein Schritt, den die Lokalpolitik über Jahrzehnte vermieden hat. Was können Kulturwissenschaften hier ausrichten? Der Geschichtswissenschaftler meint dazu: „Anthropologische, soziologische, geschichts- und literaturwissenschaftliche Infrastrukturforschung kann zu einem besseren Verständnis dieser Konflikte und Dynamiken beitragen.“ Auch Visionen digitalen Fortschritts und umgekehrt Skepsis vor Automatisierung in Teilen der Gesellschaft ließen sich kulturwissenschaftlich und interdisziplinär fundiert und facettenreich durchdringen. „Hierzu bedarf es auch einer theoretischen Fundierung des Konzepts kultureller Infrastrukturen, die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts erfolgen soll.“, betont Borutta.
Lesen Sie das ausführliche Gespräch mit Manuel Borutta im Digitalmagazin der Universität Konstanz.
Faktenübersicht:
- Manuel Borutta ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz, mit Schwerpunkt 19. und 20. Jahrhundert.
- Seit 2018 leitet Manuel Borutta das Netzwerk „Modernes Mittelmeer: Dynamiken einer Weltregion 1800-2000“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Derzeit schreibt er ein Buch über mediterrane Verflechtungen Algeriens und Frankreichs in (post)kolonialer Zeit und bereitet ein „Oxford Handbook of the Modern Mediterranean“ vor.
- Sein Beitrag „Canals & Clans: Mediterranean Infrastructures“ erschien in dem Buch „Rethinking Infrastructure Across the Humanities” (herausgegeben von Nora Binder, Fernando Esposito, Aaron Pinnix und Axel Volmar) Ende Oktober 2023 im Transkript Verlag. Das Buch ist online kostenlos zugänglich (open access).
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Bildunterschrift: Manuel Borutta, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, forscht an der Universität Konstanz über Infrastrukturen im modernen Mittelmeerraum.
Copyright: Universität Konstanz
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Bildunterschrift: Marseille, Leuchtturm um 1860 (Fotograf: Édouard Baldus)
Nach Sprengung des alten Hafens (im Hintergrund) durch die Nationalsozialisten wurden der neu errichtete neue Hafen La Joliette und der Pont Transbordeur ikonisch für Marseilles moderne Infrastrukturen.
Bildquelle: Gilman Collection, Schenkung der “The Howard Gilman Foundation”, 2005, an Wikimedia Commons
Kontakt: Universität Konstanz Kommunikation und Marketing E-Mail: kum@uni-konstanz.de
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