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Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)

Ukraine-Krieg: Schäden für Ukraine und Russland enorm, Zeitenwende für Europa

Wien (ots)

Ukraine vor ökonomischem Kollaps; Russlands Wirtschaftsbeziehung mit Westen in Auflösung, Finanzierung des Krieges ohne Energieembargo nicht in Gefahr; Wandel in der EU

Was sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges für die Ukraine, Russland und das restliche Europa? In einer neuen Studie beleuchtet das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) einerseits die unmittelbaren Folgen, andererseits aber auch die mittelfristigen strukturellen Veränderungen durch den größten bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Jenseits des menschlichen Leids durch tausende Tote und Millionen Flüchtlinge sind die wirtschaftlichen Schäden vor allem für die Ukraine verheerend. Unabhängige Schätzungen beziffern den materiellen Schaden an Infrastruktur und Gebäuden der ersten drei Wochen des Krieges auf rund 63 Milliarden US-Dollar. Die ukrainische Regierung sieht ihn inklusive der wirtschaftlichen Ausfälle und der Schäden beim Militär bereits bei 565 Milliarden US-Dollar. Die vom Krieg direkt betroffenen Regionen der Ukraine (inklusive der Hauptstadt Kiew) erwirtschafteten bisher etwa 53% des BIP. „Auch wenn man Kiew außen vor lässt, kam ein Drittel der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion und etwa ein Viertel der Gesamtexporte aus den nunmehrigen Kriegsgebieten“, rechnet Olga Pindyuk, auf die Ukraine spezialisierte Ökonomin am wiiw, vor. „Dort ist die Wirtschaft natürlich zusammengebrochen“, so Pindyuk. Da die Schwarzmeerhäfen von Russland angegriffen und vom Meer aus blockiert werden, hat die Ukraine über die Hälfte ihrer Exportkapazitäten verloren. Hauptexportgüter waren bisher Getreide und Stahl. Insgesamt stammte 2021 rund ein Drittel der Wirtschaftsleistung aus dem Warenexport.

Trotzdem legte die Ukraine bisher eine bemerkenswerte makroökonomische Stabilität an den Tag. Mitte März beliefen sich die Devisenreserven auf 27,5 Milliarden US-Dollar. Auch das Bankensystem ist bis dato stabil und liquide. „Allerdings wird die ukrainische Wirtschaft massiv ins Wanken geraten, je mehr die so wichtigen Deviseneinnahmen aus dem Export wegbrechen“, analysiert Pindyuk. Etwas Linderung könnten die beträchtlichen internationalen Finanzhilfen bringen. Inklusive einer ausgegebenen ukrainischen Kriegsanleihe belaufen sie sich auf mittlerweile rund 18,5 Milliarden US-Dollar.

Wiederaufbau wird massive Finanzhilfen erfordern

Am düsteren Ausblick für die Ukraine ändert das nichts. „Wenn viele Unternehmen ihre Tätigkeit einstellen und die Arbeitslosigkeit steigt, wird das zwangsläufig zu einem massiven Einbruch führen“, so Pindyuk. Die Banken müssen sich auf massive Verluste einstellen, weil Anlagen beschädigt sind und Kredite nicht mehr bedient werden können. „Alles hängt vom weiteren Verlauf des Krieges ab, deshalb sind Prognosen schwierig“, konstatiert Pindyuk. Sollte es längerfristig zu einer Teilung der Ukraine kommen, geht die Studie im unabhängig bleibenden Teil von einem starken Aufschwung nach Kriegsende aus. Diese unbesetzte Ukraine würde in diesem Szenario wahrscheinlich viele Flüchtlinge zur Rückkehr motivieren, eine starke Westbindung aufweisen, enorme finanzielle Unterstützung aus Europa und den USA erhalten, und möglicherweise auch der EU beitreten. Westliche Investitionen könnten die technologische Modernisierung und Produktivitätssteigerungen vorantreiben. Die umgekehrte Entwicklung droht im Falle einer Teilung den Gebieten unter russischer Kontrolle.

Russland: Auflösung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen

Auch der Aggressor Russland sieht sich mit schwerwiegenden Konsequenzen konfrontiert. Die russische Wirtschaft dürfte 2022 im besten Fall um 7% bis 8%, möglicherweise aber um bis zu 15% schrumpfen. Die Inflationsrate könnte bis Ende des Jahres auf 30% steigen, was die realen Haushaltseinkommen und damit den privaten Konsum massiv einbrechen lassen wird. „Schon jetzt sehen wir, dass es aufgrund der Sanktionen in vielen Bereichen zu Lieferkettenproblemen kommt. Das und der Rückzug vieler westlicher Firmen, beispielsweise in der Autoindustrie, trifft die industrielle Produktion hart“, sagt Vasily Astrov, Ökonom und Russland-Experte am wiiw. Das von der Regierung angekündigte Konjunkturpaket zur Krisenbewältigung wird diese Probleme kaum lösen können.

Obwohl die russische Zentralbank vom Einfrieren ihrer Devisenreserven im Westen offenkundig überrascht wurde, konnte sie die makroökonomische Situation mittlerweile stabilisieren. „Strenge Kapitalverkehrs- und Devisenkontrollen, regulatorische Erleichterungen für Banken und die Verdoppelung der Zinsen auf 20% haben eine finanzielle Kernschmelze verhindert. Der Rubelkurs hat sich nahezu auf das Niveau von vor dem Krieg erholt“, analysiert Astrov. Doch das Vertrauen der Anleger ist untergraben, die Kreditkosen steigen.

Finanzierung des Krieges ohne Energieembargo nicht in Gefahr

Die einschneidenden Sanktionen des Westens werden jedoch die Fähigkeit Russlands zur Kriegsführung in der Ukraine nur mittelfristig beeinträchtigen. „Die russische Regierung verfügt immer noch über ausreichend fiskalischen Spielraum, um den Krieg noch länger zu finanzieren“, sagt Astrov. Bevor Russland das Geld ausgeht, werden ihm seiner Ansicht nach eher die Soldaten und die modernen Waffen ausgehen.

Mittelfristig sind die Aussichten für Russland weitgehend negativ. Die Unternehmen verlieren durch die Sanktionen und den massenhaften Exodus westlicher Firmen ihren Zugang zu westlicher Technologie, was den Rückstand Russlands zu den reichen Ländern verfestigen wird. Auch ein umfangreicherer Handel mit den asiatischen Volkswirtschaften, insbesondere China, wird das nur zum Teil kompensieren können. Die Realeinkommen dürften nach dem jetzigen Einbruch auf dem niedrigeren Niveau stagnieren. Grundsätzlich hat der Überfall auf die Ukraine eine Auflösung der seit 30 Jahren aufgebauten wirtschaftlichen Vernetzung Russlands mit dem Westen eingeleitet. „Selbst wenn die Sanktionen irgendwann gelockert werden sollten, wird der Februar 2022 wahrscheinlich als Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen, an dem die Integration Russlands in die europäische Wirtschaft für längere Zeit gescheitert ist“, meint Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Co-Autor der Studie.

Europa: Hohe Inflation durch Energiepreise und strategische Zeitenwende

Im übrigen Europa treiben der Krieg und die Sanktionen die ohnehin schon hohe Inflation in immer lichtere Höhen, was die Realeinkommen belastet und die Wachstumsaussichten dämpft. Für Deutschland wird geschätzt, dass jede weitere Verdoppelung des Erdgaspreises das Wirtschaftswachstum pro Jahr um 1% reduziert. „Ungleich größer wären natürlich die Schäden, sollte die EU ein Energieembargo gegen Russland verhängen oder Moskau von sich aus kein Gas mehr liefern“, so Grieveson. Vor allem in Deutschland, Italien, Österreich und den osteuropäischen EU-Mitgliedern, die bei Gas besonders von Russland abhängig sind. „Es könnte freilich eine Situation entstehen – etwa wenn Russland Chemiewaffen einsetzt oder weitere Kriegsverbrechen begeht –, in der auch Deutschland, das bisher ein Energieembargo strikt ablehnt, durch den großen politischen Druck gezwungen wäre, ein solches mitzutragen“, argumentiert Grieveson.

In der EU wird der Angriff Russland auf die Ukraine grundlegende strukturelle Veränderungen auf der strategischen Ebene bewirken. Erstens dürften die Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsanstrengungen massiv intensivieren, wie auch die deutsche Kehrtwende in diesem Bereich zeigt. Zweitens wird die problematische Abhängigkeit von russischen Energielieferungen die grüne Transformation der Wirtschaft beschleunigen. „Russisches Öl und Gas mittelfristig durch erneuerbare Energien zu ersetzen, ist in der EU beschlossene Sache“, so Grieveson. Drittens steht die Wirtschaftsintegration der EU im eurasischen Raum mit Russland vor dem Aus. „Die Staaten dazwischen werden sich für eine der beiden Seiten entscheiden müssen, zumeist wird diese Entscheidung wohl für die EU ausfallen“, sagt Grieveson. Und viertens könnten und sollten sich die EU-Beitrittsaussichten für die Westbalkanstaaten massiv verbessern. Die Ukraine zeigt, wie zerbrechlich eine nur teilweise Westintegration sein kann. "Putins Einmarsch hätte in den meisten EU-Hauptstädten zur Einsicht führen müssen, dass diese Länder schneller aufgenommen werden sollten, um die Gefahr von Instabilität und bewaffneten Konflikten zu verringern", sagt Grieveson.

Die Studie steht hier zum Download zur Verfügung.

Pressekontakt:

Andreas Knapp
Communications Manager
Tel. +43 680 13 42 785
knapp@wiiw.ac.at

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