Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)
Frühjahrsprognose: Osteuropa wächst stärker als die Eurozone - ANHANG
Wien (ots)
Zarte Erholung, Abwärtsrisiken bleiben; Ukraine resilienter als gedacht (BIP-Prognose 2023: 1,6%); Russland-Sanktionen wirken langsam (BIP-Prognose 2023: 0,0%); hohe Inflation in der Region
Die meisten Volkswirtschaften der 23 Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas (MOSOE) dürften den ökonomischen Schock durch den Ukraine-Krieg zum größten Teil bereits verdaut haben. Obwohl sich die Wirtschaftstätigkeit gegenüber dem Vorjahr, das neben dem Krieg nicht zuletzt auch von den Nachholeffekten im Zuge der Erholung von der Corona-Pandemie geprägt war, deutlich abgeschwächt hat, werden fast alle von ihnen auch 2023 wachsen. Das geht aus der neuen Frühjahrsprognose des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) hervor. „Die schlimmsten Befürchtungen haben sich also nicht bewahrheitet. Trotz der hartnäckig hohen Inflation, die die Haushalte und Unternehmen belastet, hellt sich die Stimmung in der Region langsam auf“, konstatiert Olga Pindyuk, Ökonomin am wiiw und Hauptautorin der Frühjahrsprognose. „Das hat auch damit zu tun, dass alle Indikatoren mittlerweile auf eine langsame Erholung der Eurozone und ihrer stärksten Ökonomie Deutschland hindeuten“, so Pindyuk.
Für 2023 prognostiziert das wiiw den EU-Mitgliedstaaten der Region ein Wachstum von durchschnittlich 1,2%. Damit dürften sie mehr als doppelt so stark wachsen wie die Eurozone (0,5%). Vor allem die südosteuropäischen EU-Mitglieder zeigen sich vergleichsweise stark, während in den Visegrád-Ländern das durchschnittliche Wachstum nur 0,6% betragen wird und Ungarn heuer leicht schrumpfen dürfte (-0,5%). Die Staaten am Westbalkan werden mit durchschnittlich 2% wachsen, die Türkei mit 2,6% etwas stärker. Auch wenn das Wachstum damit in den allermeisten Fällen viel geringer ausfällt als im Vorjahr, wird eine ganzjährige Rezession mit Ausnahme von Ungarn weitgehend vermieden. Auch Russland hat sich nach einem BIP-Rückgang von -2,1% im vergangenen Jahr makroökonomisch stabilisiert. Die prognostizierte Stagnation im heurigen Jahr (0,0%) ist allerdings mit großen Unsicherheiten behaftet. Das gilt auch für die Ukraine, die sich heuer bei einem Wachstum von 1,6% nach dem verheerenden Einbruch 2022 (-29,1%) geringfügig erholen könnte.
Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation aufzuhellen beginnt, bleiben große Abwärtsrisiken. „Erstens könnte die drastische Straffung der Geldpolitik zu einer härteren Landung führen. Zweitens besteht nach wie vor die Möglichkeit einer militärischen Eskalation des Ukraine-Krieges, etwa durch den Einsatz taktischer Atomwaffen“, meint Olga Pindyuk. Zudem könnte nach den US-Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr in Washington eine Regierung an die Macht kommen, die die Ukraine weniger unterstützt, was auch negativ für das Vertrauen in der Region wäre.
Ukraine: Resilienter als gedacht
Der BIP-Einbruch in der Ukraine war 2022 mit -29,1% etwas weniger stark, als zunächst befürchtet. „Ohne die systematische Bombardierung der Energie-Infrastruktur durch Russland, die 2022 zwischen 1,9% und 3,6% an Wirtschaftsleistung gekostet hat, wäre der Rückgang noch etwas geringer ausgefallen“, so Olga Pindyuk, die auch Ukraine-Länderexpertin des wiiw ist.
Angesichts der enormen Zerstörungen und von 15% der Bevölkerung, die aus dem Land geflohen sind, ist die relative Resilienz der ukrainischen Wirtschaft beeindruckend. Für 2023 rechnet das wiiw mit einem zarten Wachstum von 1,6%, das aber vom weiteren Kriegsverlauf abhängt. Ein positiveres Geschäftsklima, eine bessere Energieversorgung - seit April exportiert die Ukraine wieder Elektrizität -, der Getreide-Deal und die internationalen Finanzhilfen sorgen für vorsichtigen Optimismus. Das für heuer prognostizierte Budgetdefizit von 27% des BIP wird auch weiterhin zum Großteil über die massive westliche Unterstützung finanziert.
Russland: Sanktionen wirken, wenn auch nur langsam
Nach einem scharfen Rückgang des BIP im 2. Quartal 2022 stabilisierte sich Russlands Wirtschaft. Letztlich führte das im vergangenen Jahr zu einem BIP-Minus von 2,1%. Für 2023 prognostiziert das wiiw nun eine Stagnation (0,0%). Obwohl importabhängige Sektoren wie die Automobilindustrie (2002: -45%) oder der Einzelhandel (2022: -12,7%) massiv unter den Sanktionen leiden, florieren die Rüstungsindustrie und manche Bereiche der Importsubstitution. So expandierte die Pharmaindustrie 2022 etwa um 26,5%, die Produktion von Elektromotoren, Generatoren und Transformatoren um 7,9%. Diese Daten stammen aus offiziellen russischen Quellen und sind mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren.
„Die boomende Kriegsindustrie, die Anpassung an die Sanktionen und die Neuausrichtung des Handels auf Asien verhindern heuer wohl eine Schrumpfung“, sagt Vasily Astrov, Russland-Länderexperte am wiiw. „Das ändert aber nichts daran, dass die sanktionsbedingten Ausfälle aus dem Energiegeschäft den Kreml mittlerweile teuer zu stehen kommen. Nicht von ungefähr räumte Präsident Putin jetzt auch öffentlich ein, dass die Sanktionen wehtun und man sich auf schwierigere Zeiten einstellen muss“, betont Astrov.
Im 1. Quartal 2023 sanken die wichtigen Budgeteinnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas um 45%, während die Ausgaben um 34% stiegen. „Das daraus resultierende Budgetdefizit dürfte heuer aber verkraftbar sein“, so Astrov. Längerfristig wird Russland vor allem die fehlende Hochtechnologie aus dem Westen – etwa Computerchips – zu schaffen machen, da diese auch China nicht liefern kann.
Inflation: Gekommen, um zu bleiben
Obwohl die hohe Inflation in der Region im Zuge der sinkenden Energiepreise wieder rückläufig ist, zeigt sie sich hartnäckiger als gedacht. Nicht nur die Lebensmittelpreise wachsen nach wie vor zweistellig. Auch die Kerninflation (ohne Energie und Lebensmittel) bleibt mit wenigen Ausnahmen im zweistelligen Bereich. Gegenüber dem Winter hat das wiiw die Inflationsprognose für die meisten beobachteten Länder daher wieder nach oben revidiert. Im Durchschnitt dürfte sie in der Region 2023 bei rund 17% liegen, gegenüber 5,7% in der Eurozone. In Ostmitteleuropa wird Ungarn heuer unter einer besonders hohen Teuerung (18,5%) leiden.
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