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Der Tagesspiegel: Abschied vom Solidarprinzip

Berlin (ots)

In einem Beitrag für den Tagesspiegel kritisiert
der frühere Bundesarbeitsminister und stellvertretende
CDU-Vorsitzende Norbert Blüm die Empfehlungen der Herzog-Kommission,
die auch von CDU-Chefin Angela Merkel unterstützt werden. Blüm
kritisiert in scharfer Form, dass die Kommission einen Ausstieg aus
dem Solidarsystem vorschlage. Das Szenario, dass sie vorsehe, gehe
offenbar davon aus, dass die CDU bis 2010 in der Opposition bleibe.
Sollten die Vorschläge CDU- Programm werden, "wären sie dazu eine
wichtige Hilfestellung".
In Folge finden sie den kompletten Beitrag:
Einen Doppelausstieg schlägt die Herzog-Kommission vor: 1. den
Ausstieg aus der Solidarität, und 2. den Ausstieg aus der
Partnerschaft.Unsere Krankenversicherung folgt dem uralten
Solidaritätsprinzip: "Einer für alle, alle für einen. Der Starke
schützt den Schwachen." Damit soll jetzt Schluss sein. Auf die
unterschiedlichen Einkommensverhältnisse wird nicht mehr Rücksicht
genommen. Alle werden über einen Kamm geschoren. Lediglich das
Eintrittsalter bestimmt die "Kopf-Prämie" mit, die anstelle der
einkommensabhängigen Beiträge treten soll. Dass ausgerechnet die CDU
zu einer solchen Gleichmacherei fähig sein soll, ist erstaunlich.
Die kleinen Einkommensbezieher sollen einen Ausgleich aus
Steuermitteln erhalten. Das soziale Zugeständnis soll immerhin 27,3
Milliarden Euro kosten. Bei stark reduziertem Spitzensteuersatz wird
das wahrscheinlich eine Pseudo- Umverteilung, bei der die rechte Hand
empfängt, was die linke gegeben hat. Wie sich das Anzapfen des
Staatshaushaltes mit dem Subventionsabbau verträgt, ist mir schwer
erkl ärlich. Die Krankenversicherung gerät so in den jährlichen
Strudel der Verteilungskämpfe. Das bringt bestimmt nicht mehr
Sicherheit.
Die Liebhaber von Bürokratien werden ihre helle Freudean diesem
neuen Dickicht haben, zumal noch hinzukommt, dass für den Übergang
ein "kollektiver" Kapitalstock gebildet werden soll, der später
versicherungsmathematisch "individualisiert" wird. Am Schluss weiß
niemand mehr, wer wessen Hand in welcher Tasche hat.
Zur paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung: Das ist
weniger eine Kostenverteilungsregel (Arbeitgeberbeiträge sind sowieso
Lohnkosten), sondern mehr ein Verantwortungsverteilungsprinzip. Die
Partnerschaft hat ihren Sitz im Leben der Selbstverwaltung. In dieser
übten die Kontrahenten früh das Miteinander, aus Klassengegnern
wurden Partner. Alles Schnee von gestern. Die Arbeitgeber können sich
fortan zurücklehnen. Sie reden weiter in der Selbstverwaltung mit,
aber an der Last der Kostendämpfung sind sie nicht mehr beteiligt.
Mit mächtigen Kostentreibern, wie beispielsweise die Pharmaindustrie,
die auch Arbeitgeber ist, müssen sich die Arbeitgebervertreter in der
Selbstverwaltung nicht mehr herumschlagen. Früher nannte man so etwas
"Rosinenpickerei". Dann wäre es ehrlicher, den Arbeitgeberbeitrag auf
den Arbeitnehmerbeitrag draufzuschlagen, das ganze
"Arbeitnehmerbeitrag" zu nennen und die Arbeitgeber scheiden aus der
Selbstverwaltung aus.
Die Herzog-Kommission konzentriert sich weitgehend auf den
Geldbeutel des Versicherten. Um mächtige Anbieter macht sie dagegen
leise die Kurve. Wettbewerb ist das große Heilmittel der Sozi-
alversicherung, und sie wird eindrucksvoll für die Kassen
beschrieben. Den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt, wo eine
riesige Verschwendung organisiert ist, erklärt sie dagegen kleinlaut
"für dringend reformbedürftig". Das Angebotskartell der
Kassenärztlichen Vereinigung soll "nach zeitgemäßen Erfordernissen"
präzise definiert werden.
Die Demografie wird zum Hauptverursacher der
Umstellungsnotwendigkeiten der Sozialversicherung erklärt. Doch die
Demografie wirkt sich in Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
unterschiedlich aus. In die Kranken- und Pflegeversicherung zahlen
die Rentner Beiträge, in die Rentenversicherung nicht. Die Alten
werden nicht nur älter, sondern auch "jünger", das heißt, sie bleiben
länger fit. Die Kostenkonzentration der Kranken- und
Pflegeversicherung verschiebt sich ins höhere Lebensalter. Die
demografische Belastung wächst in der Kranken- und Pflegeversicherung
nicht im Gleichschritt mit der Zahl der Alten - denn jeder stirbt nur
einmal.
Eine Untersuchung aus den USA schätzt den demografischen Anteil
auf 24 Prozent an einer Gesamtkostensteigerung von 2400 Prozent
innerhalb von 40 Jahren. Die Gesundheitskosten sind of-fenkundig mehr
von der Wohlstandsentwicklung abhängig. Eine 10- prozentige
Steigerung des Brutto-Inlands-Produktes schlägt sich in einer 14-
prozentigen Erhöhung der Gesundheitskosten nieder, wie Professor Uwe
Reinhardt, internationaler Experte für Gesundheitsökonomie,
nachgerechnet hat. Mit wachsendem Wohlstand werden bestimmte
Bedürfnisse gesättigt. Die Nachfrage nach Wohlbefinden steigt dagegen
fast unbegrenzt. Die Pharma liefert fast alles: "Hallo-Wach- " und
"Schlaf-gut-Mittel", Mittel für jede Stimmung. Hier muss ein Riegel
vorgeschoben werden. Die Sozial-versicherung kann nicht jedes
"psychische, physische und soziale Wohlbefinden"
(Weltgesundheitsorganisation) solidarisch finanzieren.
In einer Zeit, in der Qualifizierung das Hauptwort einer modernen
Wirtschaft und Weiterbildung die elementare Voraussetzung für die
Beschäftigungschancen der älteren Arbeitnehmer ist, vorzuschlagen,
die Förderung der Weiterbildung zu halbieren, ist ein Rückfall in die
Zeit vor dem von der CDU 1969 geschaffenen Arbeitsförderungsgesetz,
Konsequent wäre es gewesen, die Weiterbildung der Arbeitnehmer wie
die Bildung der Akademiker zu finanzieren, nämlich durch
Steuermittel. Die allgemeine Privatisierung der Universitätsbildung
schlägt Herzog nicht vor. Bei den Arbeitnehmern aber wird in diese
Richtung marschiert. "Durch eine Verkürzung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes kann ein Beitrag geleistet werden, Arbeitslose
frühzeitig zu motivieren, sich aktiv um eine Besch äftigung zu
bemühen." Diesen Satz bitte ich einem 55-jährigen Arbeitslosen, der
200 vergebliche Bewerbungen geschrieben hat, von Herrn Professor
Herzog persönlich vorlesen zu lassen - er ist "Zynismus pur". Selbst
wenn das Ar-beitslosengeld ganz gestrichen würde, die älteren
Arbeitnehmer finden nur schwer wieder Arbeit. Denn 60 Prozent der
deutschen Betriebe beschäftigen keinen Arbeitnehmer über 50 Jahre.
Die 50-jährigen Arbeitslosen haben im Übrigen in der Regel länger
Beiträge gezahlt als die 20- Jährigen, was für eine
leistungsorientierte Partei wie die CDU nicht ohne Belang sein kann.
Das Szenario der Herzog-Kommission, nach dem die Zahl der
Erwerbstätigen bis 2010 nur um 300000 steigt, geht offenbar davon
aus, dass die CDU bis dahin in der Opposition bleibt. Die Vor-
schläge der Herzog-Kommission, wenn sie CDU-Programm würden, wären
dazu eine wichtige Hilfestellung.
Inhaltliche Rückfragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Ressort Meinung, Telefon 030/26009-425
ots-Originaltext: Der Tagesspiegel

Rückfragen bitte an:

Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon: 030-260 09-419
Fax: 030-260 09-622
Email: thomas.wurster@tagesspiegel.de

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