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Der Tagesspiegel: Beck: Rot-Grüne hat eine "autoritäre Wende in der Politik" vollzogen.

Berlin (ots)

Der Münchener Soziologe Ulrich Beck, einer der
führenden Gesellschaftsdenker in Deutschland, hat die rot-grüne
Bundesregierung angesichts ihrer Reformpolitik scharf kritisiert und
ihr eine "autoritäre Wende in der Politik" vorgeworfen. "Die rot-
grüne Regierung erweckt derzeit den Anschein, dass sie die Wahrheit
mit Löffeln gefressen hat und dass die Bürger das leider nur noch
nicht eingesehen haben. Das ist eine autoritäre Wende in der
Politik", sagte Beck im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag.
Seiner Ansicht nach wäre das Gegenteil richtig: "Man muss die
Reformen im Diskurs mit den Bürgern entwickeln - und dabei eigene
Unsicherheiten eingestehen. Es ist ein elitäres Missverständnis zu
meinen, die Bürger bräuchten Versprechen - wie zum Beispiel die
Wiederkehr der Vollbeschäftigung - , die man im Zweifel nicht halten
kann. Das produziert nur Enttäuschung."
Beck warnte die Politik vor einer zu weitgehenden Privatisierung
öffentlicher Aufgaben. Dies könne "ein unvorstellbares Chaos
erzeugen". Auch nehme die derzeitige Arbeitsmarktpolitik "Frauen die
Möglichkeit, sich für Kinder zu entscheiden".
Nachstehend erhalten Sie das Interview im Wortlaut. Es steht Ihnen
bei Nennung der Quelle "Tagesspiegel am Sonntag" zur Verwendung frei.
„Das ist ein Umsturz"
Der Soziologe Ulrich Beck über den Abschied von der sozialen
Sicherheit - und was danach kommen wird
Herr Beck, was bedeutet der Staat derzeit aus der Perspektive
seiner Bürger?
Vor allem erwartet der Bürger Sicherheit. Das ist das Versprechen,
mit dem der deutsche Nationalstaat seine Geltung gewonnen hat,
Sicherheit nach innen wie nach außen, im sozialen Sinn wie im
militärischen. Der Staat monopolisiert Gewalt und schafft damit die
Voraussetzung für ein gewaltfreies Miteinander der Bürger. Dazu sorgt
er für ein bestimmtes Niveau sozialer Sicherheit, das an
Erwerbsarbeit gekoppelt ist, begleitet durch ein sozialpolitisches
Programm Bismarckscher Prägung.
Ist das zu viel erwartet?
In der veränderten Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts schon.
Diese Erwartungen sind typisch kontinentaleuropäisch, auch typisch
deutsch, und zusätzlich noch dadurch radikalisiert, dass der Staat in
der DDR ein echter Garant für Erwerbsarbeit war und selbst Arbeit
schuf. Jetzt erleben wir einen Umbruch von relativ stabiler
Erwerbsarbeit hin zu flexibilisierten und fragilen Arbeitsformen,
zugleich werden massenhaft Menschen aus der Arbeit und damit aus der
Gesellschaft herausgedrängt. Das ist mehr als ein struktureller
Wandel, das ist ein Umsturz.
Unternehmen beschränken sich in wirtschaftlich schlechten Zeiten
auf ihr Kerngeschäft. Gilt das auch für den Staat?
Das genau ist die Frage, und ich kann nicht erkennen, dass sie in
der Politik oder bei den Bürgern angemessen diskutiert wird. Doch wir
müssen aufpassen. Wir sollten nicht das amerikanische Modell
kopieren, bei dem sich der Staat weitgehend aus der sozialen
Sicherung herausgehalten hat.
Die USA sind eine erfolgreiche Gesellschaft …
… aber Europa hat eine andere Tradition. Wir definieren Staat und
Demokratie in engem Zusammenhang mit Solidarität. Solidarität ist
eine Kernaufgabe des Staates, auch wenn wir den Wohlfahrtsstaat nicht
mehr in der Form erhalten können, die er die letzten 50 Jahre hatte.
Nur müssen wir die nationale Brille absetzen. Wohin man schaut,
dieselbe Situation, überall in Europa: Die Rentensysteme
funktionieren nicht mehr, die Überalterung droht, Reformen werden
blockiert. Ein wichtiger Fortschritt könnte darin liegen, den
Zusammenhang von Bevölkerungsrückgang, notwendigen Reformen der
Sozialsysteme und Migrationspolitik als ein europäisches Problem zu
definieren und kooperativ anzugehen.
Welche Risiken liegen im Rückzug des Staates?
Die Deutschen setzen Demokratie mit Wohlstand gleich. Wir sind auf
die Erfahrung nicht vorbereitet, dass die Demokratie zwar frei macht,
nicht aber notwendigerweise reich. Demokratie und Armut,
Arbeitslosigkeit und Unsicherheit können einhergehen. Wir müssen
begreifen, dass Demokratie und Freiheit selbst Werte und
erstrebenswert sind und nicht nur der Wohlstand, den sie einst
versprach. Und das in einer Situation, in der nahezu alles unsicher
geworden ist. Man kann nicht mehr planen, welchen Beruf man ergreift,
man weiß nicht, ob die Ausbildung, die man macht, sich auszahlt,
nicht einmal in den klassischen akademischen Berufen.
Müssen wir uns künftig allein um unsere Rente kümmern?
Vorläufig kann sich der Staat hier nicht zurückziehen, er sollte
es auch nicht. Die Ökonomen empfehlen das zwar immer wieder, sie
setzen dabei aber eine Stabilität von Marktbeziehungen voraus, die es
nicht gibt. Beispiel Amerika: Als dort der Aktienmarkt
zusammengebrochen ist, hat sich eine ganze Generation von ihrer
erwarteten Rente verabschieden müssen. Das mögen Amerikaner, wo der
Markt fast ein Fetisch ist, noch akzeptieren. Bei uns ist das
unzumutbar. Was wir brauchen, ist eine Art Grundsicherung, ein
Bürgergeld, das alle Situationen abpuffert, in denen jemand nicht
mehr arbeiten kann. Denn das ist das Dilemma, in dem wir stecken:
Einerseits flexibilisieren wir den Arbeitsmarkt, andererseits nehmen
wir dadurch Frauen die Möglichkeit, sich für Kinder zu entschieden.
Das Bürgergeld könnte auch gezahlt werden, wenn jemand eine Auszeit
von seinem Job nehmen und sich politisch oder sozial engagieren will.
Wenn die Menschen über eine solche Sicherung verfügen, kann man ihnen
auch mehr Unsicherheit zumuten.
Aus welchen Bereichen darf sich der Staat keinesfalls
zurückziehen?
Aus der Bildung. Wenn nichts mehr Sicherheit gibt, die Familie
nicht, die Religion nicht, die Klasse nicht, dann bleibt nur Bildung.
Und zwar nicht nur eine Bildung, die einen Menschen auf einen
Arbeitsplatz vorbereitet, den es drei Jahre später nicht mehr gibt,
sondern eine, die Grundkenntnisse, Selbstbewusstsein und die
Fähigkeit vermittelt, sich zu informieren und sich darzustellen.
Bildung ist die Sozialversicherung, die nach der Sozialversicherung
kommt.
Braucht der Staat Beamte?
Unbedingt. Beamte sind die organisierte Vertretung des
Allgemeininteresses. Das privatisieren zu wollen, ist ein
historischer Irrtum. Privatisierung ist kein Patentrezept - sie kann
ein unvorstellbares Chaos erzeugen, wie das Beispiel England und die
Eisenbahn zeigt.
Wenn der Staat sich zurückzieht - schwindet dann auch seine
Legitimation?
Die rot-grüne Regierung erweckt derzeit den Anschein, dass sie die
Wahrheit mit Löffeln gefressen hat und dass die Bürger das leider nur
noch nicht eingesehen haben. Das ist eine autoritäre Wende in der
Politik. Das Gegenteil wäre richtig: Man muss die Reformen im Diskurs
mit den Bürgern entwickeln - und dabei eigene Unsicherheiten
eingestehen. Es ist ein elitäres Missverständnis zu meinen, die
Bürger bräuchten Versprechen - wie zum Beispiel die Wiederkehr der
Vollbeschäftigung - , die man im Zweifel nicht halten kann. Das
produziert nur Enttäuschung. Ein ehrlicher Diskurs würde den Staat
besser legitimieren, gerade in Zeiten seines Rückzugs.
Inhaltliche Rückfragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Ressort Politik, Telefon 030/26009-389
ots-Originaltext: Der Tagesspiegel

Rückfragen bitte an:

Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon: 030-260 09-419
Fax: 030-260 09-622
Email: thomas.wurster@tagesspiegel.de

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