Der Tagesspiegel: Interview mit Altbundespräsident Johannes Rau über die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, die deutsche Rolle in Europa und den Kapitalismus
Berlin (ots)
Berlin. Die Deutschen haben nach Ansicht von Altbundespräsident Johannes Rau 60 Jahre nach Kriegsende eine "Bringschuld" gegenüber ihren europäischen Nachbarn. Friede und Versöhnung seien die Basis auch für wirtschaftlichen und politischen Erfolg, mahnte Rau im Gespräch mit dem in Berlin erscheinenden Tagesspiegel am Sonntag. Im Moment sei dies auf dem Balkan "am schwersten, denn der Konflikt dort ist längst nicht ausgestanden". Anlässlich des 8. Mai wünscht sich Rau von den Deutschen, dass sie das "Staunen nicht verlernen" und es nicht als selbstverständlich ansehen, dass Deutschland trotz der Vergangenheit heute in Europa "von Freunden umzingelt" sei.
Es stehe den Deutschen an, "an den Tag der Niederlage und der Befreiung immer wieder zu denken", sagte Rau. Angesichts der eigenen Erfahrungen in Deutschland mit Rechts- wie Linksradikalismus gebe es einen "Zwang zu mehr Sensibilität" als in anderen Ländern. Gleichwohl ist die Gefahr einer Wiederkehr nationalistischer Politik aus seiner Sicht "nicht stärker" als im übrigen Europa.
Entschieden warb der frühere Bundespräsident dafür, dass Deutschland zur Lösung der aktuellen gesellschaftlichen Probleme einen selbstbewussten eigenen Weg geht. Amerikanische Modelle dürften nicht einfach auf die deutsche oder europäische Wirklichkeit übertragen werden. Das "Nachäffen" anderer, der "Blick auf das Ranking in allen möglichen Bereichen", bringe wenig. "Wir sollten unseren eigenen Weg gehen", ohne auf die anderen herabzublicken, betonte Rau.
Im Kampf um Arbeitsplätze soll Deutschland offensiv auf die mittelständische Wirtschaft setzen, fordert der Ex-Präsident. "Wir müssten mehr Unternehmerpersönlichkeiten entwickeln und fördern, die selbst haften, keine angestellten Manager." Derzeit werde die Diskussion zu sehr von Verbandsfunktionären und international wirkenden Konzernen bestimmt. Indirekt kritisierte Rau seinen Amtsnachfolger Horst Köhler, der Vorfahrt für Arbeit gefordert hatte. Dieser Satz sei ihm "noch nicht differenziert genug", merkte Rau an, "Kampf gegen Arbeitslosigkeit hat Vorfahrt".
Zurückhaltend äußerte sich Rau zum Vergleich des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering von Unternehmen mit Heuschrecken. "Es gibt immer wieder Phasen, in denen sich solche Vergleiche anbieten oder aufdrängen. Ich neige nicht dazu, das zu kultivieren." "Keinesfalls" darf sich Deutschland nach den Worten des Altbundespräsidenten von den Chancen der Konsensrepublik verabschieden. Im Moment komme der Wert der Barmherzigkeit zu kurz, merkte Rau an. "Viele von uns sind heute verwöhnter" und sähen kaum mehr den steigenden Anteil der Armen und Arbeitslosen, "das sind doch große Probleme". Die Deutschen sollten sich in der Zeit geringer werdenden Wohlstands auch selbst bescheiden, "aber nicht in dem Sinne, dass immer der eine zum anderen sagt: Du musst dich selbst bescheiden".
Die politischen Kräfte müssen sich nach Ansicht des früheren Bundespräsidenten von "der Inflation der Worte" befreien. Ihm mache Sorgen "dass sich die Politik immer mehr aus der Regierung und dem Parlament in die Talkshows" verlagere. Rau selbst will sich nicht wieder in die Parteipolitik begeben. Er wolle "nicht aus der Überparteilichkeit des Amtes zurück in den Parteienhader", sagte Rau dem Tagesspiegel am Sonntag.
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