Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Jahresschlussgottesdienst am 31. Januar 2020
Bonn (ots)
Ps 90, 1-4.12-17
Lk 21, 29-36
"Wie die Zeit vergeht ..." Ob anlässlich eines runden Geburtstags, beim Blättern in analogen oder digitalen Fotoalben, bei einem Klassentreffen oder auch am letzten Tag des Jahres: Staunen und Verwunderung mischen sich in diesen Seufzer. "Wie die Zeit vergeht ..."
Aber wie vergeht sie denn eigentlich, die Zeit? Unser Zeitempfinden ist ja sehr unterschiedlich. In besonderen Glücksmomenten scheint sie still zu stehen. Im alltäglichen Einerlei plätschert sie dahin wie ein Bach auf dem Weg zur Mündung. Ohne regelmäßige Anforderungen, Höhepunkte und Ereignisse weilt sie lange und beschert uns Langeweile. Und manchmal muten die raschen Veränderungen wie ein Ruck in der Zeit an, wie Sprünge oder Beben, weil wir aus der Fassung geraten.
So, liebe Schwestern und Brüder, empfinde ich dieses Corona-Jahr. Die Zeit hat einen Ruck gemacht. Gute Gewohnheiten wurden durchbrochen. Wenn sich Alltäglichkeit eingestellt hat, dann für viele Menschen ganz anders als gewohnt; vor allem für die, die von der Krankheit oder ihren existenziellen Folgen direkt betroffen sind.
Spätestens mit dem Lockdown im Frühjahr wurde mir wie den meisten von uns bewusst: Hier kommt etwas Unvergleichbares auf uns zu; eine Krise ungeahnten Ausmaßes; Gefährdung in vielerlei Hinsicht. Und das fordert neben der Bereitschaft zu Einschränkungen und Opfern in der persönlichen Lebensgestaltung vor allem auch eine besondere Aufmerksamkeit für das, was sich bei mir und bei anderen ereignet. Und mir war klar, Uhr und Kalender sind wenig dazu angetan, diese kommende Zeit in ihrer Qualität zu ermessen und sich - ist die Krise so Gott will einmal vorüber - angemessen zu erinnern. Am 12. März habe ich mir eine Seite aus der Tageszeitung herausgelegt. Damit begann meine private Corona-Chronologie; der ganz subjektive Versuch einer Zeiterfassung. Mittlerweile sind es 43 Blätter. Sie enden bislang am 16. Dezember, dem Tag mit der höchsten gemeldeten Zahl an Toten, der zugleich die Zulassung des Impfstoffs durch die Arzneimittelagentur der EU noch vor Weihnachten als "Weihnachtsgeschenk" besonderer Art und als Hoffnungszeichen in Aussicht stellt. In zufälliger Auswahl lassen diese Blätter mich die Zumutung und die Wucht der Entwicklungen nachvollziehen: "Wir haben keine Erfahrung mit dem Mangel" am 12. März. Da ging es im Artikel um die Absage unzähliger Kulturveranstaltungen und die seltsamen Hamsterkäufe. Am Karsamstag, 11. April, standen die Probleme der Osterfeiertage und die Diskussionen in der evangelischen Kirche um ein Online-Abendmahl im Fokus unter der Überschrift: "Heilige Messe im Autokino". 22. Mai: "Das Zerwürfnis". Ein Bericht darüber, wie Corona das Verhältnis zwischen China und den Vereinigten Staaten belastet. 4. Juli: "Die zweite Welle ist da". Da waren hier bei uns noch geradezu "selige Zeiten" der Inzidenzzahlen, wir konnten Ferien planen. In Israel aber war das Coronavirus bereits stärker zurück als je zuvor, und dafür wurden nun Schuldige gesucht. Am 1. September empfing der Bundespräsident jene Polizisten, die den Angriff pöbelnder Demonstranten auf den Reichstag abgewehrt hatten: "Steinmeier fordert entschiedenen Kampf gegen Rechtsextremismus". Mitten in der zweiten Phase deutlicher Kontakt-Beschränkungen, Schließungen von Gaststätten und unfreiwilliger Pause im Kulturbetrieb dann die Vorüberlegungen: "Wie impft man Millionen?" Und kurz vor dem zweiten strengen Lockdown die Mahnung des Bundespräsidenten am 12. Dezember: "Die Lage ist bitterernst". Wie wird meine und unsere Corona-Chronologie weitergehen? Werden wir in einem überschaubaren Zeitraum sagen können, dass wir die Krise weitgehend gemeistert haben? Wie lange werden wir an den Folgen knabbern, den nationalen und weltweiten, den materiellen und seelischen? Und wie sieht eine "Normalzeit" nach Corona aus? Werden wir aus dem Ruck der Zeit Konsequenzen ziehen und etwas ändern, oder kehrt der Bach der Zeitläufte wie nach einer verheerenden Überschwemmung einfach in sein Bett zurück und plätschert, als wäre nichts gewesen? Ausgemacht sind die Alternativen weiß Gott nicht. Und es liegt an uns, ob wir lernen wollen und Veränderungen zulassen im Kleinen und im Großen, die - auch wenn sie mit Aufwand und Kosten verbunden sind - zu einem besseren Leben, zu Entschleunigung, Solidarität und größerer Gerechtigkeit beitragen? Ich bin entschieden dafür.
"Wie die Zeit vergeht ..." Laut einer Online-Umfrage unter 600 Erwachsenen hatten nur knapp zwanzig Prozent der Teilnehmer den Eindruck, dass die Zeit dieses Jahres in normalem Tempo verstrich. Für rund 40 Prozent verging die Zeit schneller als normal, ähnlich hoch war der Anteil der Befragten, die den Verlauf der Zeit langsamer wahrnahmen. Veränderungen im täglichen Leben haben also einen deutlichen Einfluss auf unsere Zeitwahrnehmung. Und diese ist im Unterschied zur Wahrnehmung von Gegenständen und Ereignissen nicht an unsere Sinnlichkeit gebunden. Zeit braucht offensichtlich Orientierung. Wie wir die Zeit in ihrer Qualität empfinden und ihre Dauer im Rückblick einschätzen, das hängt vom Grad der Aufmerksamkeit ab, die wir der Zeit gewidmet haben. Je größer die Ablenkung, desto schneller vergeht die Zeit. Diejenigen, die während des ersten Lockdowns wenig zu tun hatten und deren Alltagsroutinen gestört waren, nahmen die Zeit langsamer wahr, weil sie ihr mehr Aufmerksamkeit schenken konnten. Angst und Ungewissheit, wie bedrohlich dieser globale Ausnahmezustand ist und wie lange er dauern wird, zeigen einen ähnlichen Effekt. Andererseits ist die Zeit der Pandemie durch so viele ungewöhnliche Ereignisse und Nachrichten geprägt, dass man den Eindruck hat, der Beginn liege weit in der Vergangenheit zurück. Orientierungspunkte draußen und die "innere Uhr" des subjektiven Zeitempfindens sind mithin entscheidend, warum wir diese außergewöhnliche Zeit so anders empfinden (Vgl. Sibylle Anderl, Warum die Zeit so anders vergeht, in: FAZ Nr. 279, 30. November 2020, 9).
Liebe Schwestern und Brüder, mit gutem Grund erfreuen sich die Gottesdienste zum Jahresschluss großer Beliebtheit und deshalb schmerzen die Zugangsbeschränkungen heute auch wieder besonders. Denn für Menschen, die an Gott und seine die Zeit bergende Ewigkeit glauben, ist das die Grundorientierung unseres Lebens, und sie wirkt sich natürlich auch auf unser Zeitgefühl aus. Der Glaube gibt Halt. Das habe ich in dieser Krisenzeit deutlich erfahren und viele Menschen haben es mir im persönlichen Gespräch oder auf andere Weise mitgeteilt. Nicht zuletzt deshalb ist die freie Ausübung der Religion auch in unserer bunten gesellschaftlichen Wirklichkeit ein so hohes Gut.
Häufiger als sonst habe ich in den vergangenen Monaten über den Anfang eines Morgenhymnus nachgedacht, der auf den berühmten Mailänder Bischof Ambrosius (339-397) zurückgeht: "Aeterne rerum conditor, noctem diemque qui regis, et temporum das tempora, ut alleves fastidium." Zu Deutsch: "Ewiger Schöpfer aller Dinge, der du Nacht und Tag lenkst und die Zeiten der Zeiten gibst, um den Überdruss zu erleichtern." Da hat einer die Zeit trefflich erfasst, nämlich im Spiegel der Ewigkeit wie im menschlichen Empfinden. Das mindert die Herausforderungen nicht, die Sorgen erscheinen vielleicht noch drängender, dem Menschenmöglichen werden die Grenzen aufgezeigt, uns wird die schöpferische Kraft unseres Könnens bewusst und doch entspringt aus der Einsicht, in Gottes Treue geborgen zu sein, große Dankbarkeit. So erschließen sich dem Zeitempfinden gläubiger Menschen ungeahnte Dimensionen.
"Wie die Zeit vergeht ...", das bleibt kein melancholischer Seufzer und auch keine unbeantwortete Frage für mich. Die Zeit geht auf - in Gottes Ewigkeit. Jedes Jahr zu Silvester spreche ich für mich das kleine Gebet des Jesuiten Wilhelm Eberschweiler (1837-1921), das früher einmal in der Andacht zum Jahresschluss im Gotteslob stand. Da wird, was ich über Zeit und Ewigkeit glaube, zum Trost, der mich trägt: "Wie tröstlich ist es doch, bester Vater, dass du meinen Kalender für das kommende Jahr schon längst und auf das Genaueste gemacht hast. So überlasse ich mich ganz deiner gütigen Vorsehung und kenne nur eine Sorge, deinen väterlichen Willen zu erkennen und zu erfüllen." Ich wünsche Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, dass Sie auf Ihre Weise betend und mit Gottvertrauen ins neue Jahr gehen können.
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