Börsen-Zeitung: Im Niemandsland, Börsenkommentar "Marktplatz" von Christopher Kalbhenn
Frankfurt (ots)
Die Turbulenzen an den Kapitalmärkten und in der Finanzbranche regen die Fantasie von Analysten und Strategen an. Mit kreativen Überschriften reizen sie die Kundschaft ihrer Institute zur Lektüre ihrer Analysen. Ein gelungenes, für die derzeitige Situation sehr treffendes Beispiel lieferten dieser Tage die Analysten der Deutschen Bank, die ein Aktien-Strategiestück mit "In No Man's Land" betitelten.
Die Akteure an den Aktienmärkten sind derzeit hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen Signalen, die teils auf weitere Verluste und neue Kurstiefen, teils auf Gegenbewegungen nach oben hindeuten. Für Letzteres spricht z.B. die Saisonalität der Aktienmärkte. Die Jahreszeit, in der sie, wie die Statistik belegt, überdurchschnittlich gut abschneiden, hat begonnen. Hinzu kommen psychologische Faktoren. Der kürzlich erfolgte Einbruch der Märkte, der den Dax bis auf 4000 drückte, wurde von eindeutigen Symptomen einer Anlegerkapitulation begleitet - ein klassisches Signal für Marktwenden nach oben. Außerdem befinden sich die KGV-Bewertungen (Kurs-Gewinn-Verhältnis) auf niedrigen Niveaus, wenngleich sie auf Schätzungen beruhen, die noch deutlich nach unten revidiert werden.
Bezeichnend für die aktuelle Stimmung, aber auch für die außergewöhnliche Lage, in der sich Finanzindustrie und Kapitalmärkte derzeit befinden, sind die vielen Vergleiche mit dem Crash von 1929, dem die Große Depression folgte. So sehr gewisse Analogien vorhanden sind, so sehr ist doch zu betonen, dass es fundamentale Unterschiede gibt, die gegen eine Wiederholung oder eine wirklich vergleichbare Entwicklung sprechen. Der entscheidende Unterschied ist die Wirtschaftspolitik. Weltweit findet derzeit eine konzertierte Aktion statt, wie sie die Wirtschaftsgeschichte noch nicht gesehen hat. In allen großen Wirtschaftszonen werden die Zinsen gesenkt, die Bankensysteme mit Liquidität geflutet und Konjunkturpakete geschnürt. Länder, die in Bedrängnis geraten, erhalten von anderen Staaten oder aber internationalen Organisationen Liquiditätshilfen und Kredite, um eine ökonomische Implosion abzuwenden. Das sind alles Notmaßnahmen und Belege dafür, wie schlimm die Krise ist. Im Unterschied zur Großen Depression wird dem Patienten heute jedoch nicht durch Zinserhöhungen und einen kräftigen Tritt auf die Fiskalbremse der Rest gegeben. Es besteht daher durchaus die Aussicht, dass über kurz oder lang niedrige Bewertungen und massive Stützmaßnahmen positive Wirkungen auf Wirtschaft und Finanzmärkte haben.
Doch das hilft den Marktakteuren noch nicht. Die Wirtschaftsdaten und die Quartalsberichte der Unternehmen zeigen immer noch eine beunruhigende Verschlechterung an. Das hat zuletzt der Arbeitsmarktbericht der USA gezeigt. Es wurde befürchtet, dass die amerikanische Volkswirtschaft im Oktober per saldo 200000 Arbeitsplätze abgebaut haben könnte. Tatsächlich waren es aber 240000. Bestürzende Nachrichten in der Unternehmenslandschaft bietet derzeit insbesondere die Automobilindustrie. Manager erzählen, noch nie einen derartigen Einbruch erlebt zu haben. Die gesamte Branche fährt ihre Produktion massiv zurück. Eine Kettenreaktion ist die Folge. Auch die Automobilzulieferer sowie die Stahlindustrie reduzieren angesichts der wegbrechenden Nachfrage ihre Produktion.
Dass sich die Investoren im Niemandsland zwischen stützenden Faktoren und sehr negativen Nachrichten bewegen, illustrieren auch die Marktbewegungen der zurückliegenden Tage. Unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl folgte der Obama-Euphorie ein starker Kurseinbruch. Zwar haben die Notenbanken am Donnerstag eindrucksvoll ihre Entschlossenheit unter Beweis gestellt, der Krise zu Leibe zu rücken, indem sie die Zinsen massiv gesenkt haben. Nach einem kurzen Anstieg im Anschluss an den extremen Zinssenkungsschritt der Bank of England um 150 Basispunkte folgte jedoch der nächste Rückschlag. Die Zinssenkungen werden erst mittelfristig und eben nicht unmittelbar helfen, von einer politischen Wende in den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen. Da gleichzeitig keine vernünftigen Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass sich der düstere Nachrichtenfluss in absehbarer Zeit ein wenig aufhellen wird, werden die Marktteilnehmer bis auf Weiteres orientierungslos im Niemandsland umherirren.
(Börsen-Zeitung, 8.11.2008)
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