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Börsen-Zeitung: Für jeden etwas, Kommentar zum ESM-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, von Claus Döring.

Frankfurt (ots)

Kann ein Verfassungsgerichtsurteil ein gutes Urteil sein, wenn es von fast allen Seiten Beifall bekommt? Was bedeutet es, wenn sich Bundesregierung wie auch Kläger, wenn sich Parteien und Verbände, ja sogar voraussichtliche Zahler und Nutznießer des Euro-Rettungsschirms ESM sowie Investoren, Gläubiger und Schuldner zufrieden zeigen? Das lässt nur einen Schluss zu: Jeder sucht sich aus dem Urteil jene Aspekte heraus, die ihm passen. Die Risiken und Nebenwirkungen werden ausgeblendet.

Das beginnt damit, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit schon wie eine Entscheidung in der Hauptsache aufgefasst wird, obwohl es ein Eilverfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung war. Damit wollten die Antragsteller die Ratifikation von ESM und Fiskalpakt verhindern. Zu dieser (Fehl-)Wahrnehmung hat das Gericht selbst beigetragen, indem es schon für den Eilantrag eine summarische Prüfung der Rechtslage vorgenommen hat, weil mit der Ratifikation der Verträge völkerrechtliche Bindungen eingegangen werden, die auch ein späteres Urteil der Verfassungsgerichts nicht mehr rückgängig machen könnte.

Das setzt sich fort mit einer völlig überzogenen Erwartungshaltung vieler Beobachter im Ausland, aber auch jener 37000 Mitkläger, die vom Gericht eine Grundsatzentscheidung über die Zulässigkeit der Euro-Rettungspolitik erhofften. Die jetzt noch irrigerweise annehmen, das Gericht habe die Haftung Deutschlands in der Euro-Rettung auf jene 190 Mrd. Euro begrenzt, die sich aus dem deutschen Anteil am ESM-Kapital ableiten. Diese Haftungsbegrenzung gilt nur für den ESM-Vertrag in der vorliegenden Form.

Dem Ausbau der Haftungsunion hat Karlsruhe dagegen keinen Riegel vorgeschoben. Denn erstens ist der unter Auflagen durchgewunkene ESM ja ein erster völkerrechtlicher Schritt in die Haftungsunion und zweitens ist es aus Sicht des Gerichts möglich, diesen Haftungsrahmen zu erweitern, wenn die Regierungen mit entsprechender demokratischer Legitimierung das wollen. Und drittens ist es unabhängig davon möglich und wird praktiziert, über andere Vehikel bis hin zu den Anleihekäufen durch die Europäischen Zentralbank (EZB) die deutsche Haftung auszuweiten. Daran hat die Karlsruher Entscheidung nichts geändert. Inwieweit die Kaufprogramme der EZB die deutsche Zustimmung zu den EU-Verträgen und das Demokratiegebot tangieren, wird das Verfassungsgericht erst im Frühjahr im Hauptsacheverfahren prüfen. Bis dahin haben die Target-2-Salden und absehbare Anleihekäufe der EZB weiter Fakten geschaffen, egal was Karlsruhe dann verkündet.

Ein Urteil also für die Katz? Nicht ganz, zumindest eine Klarstellung ist für die laufende Euro-Rettungsdebatte hilfreich: Nach den gestrigen Ausführungen des Gerichts darf der ESM weder gehebelt noch mit einer Banklizenz ausgestattet werden.

Aber was heißt das schon? Wird der ESM nicht bereits als Feigenblatt und Katalysator für die formal unlimitierten Anleihekäufe der EZB missbraucht? Hier haben die Damen und Herren in den roten Roben leider darauf verzichtet, jetzt schon eine rote Linie zu ziehen. Zwar hat Präsident Andreas Voßkuhle daran erinnert, dass die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert ist, in der die monetäre Haushaltsfinanzierung durch die EZB verboten ist. Solange aber die EZB für sich selbst reklamiert, innerhalb dieses Vertragsrahmens zu bleiben und darin sogar von der Bundesregierung bestärkt wird, werden die geldpolitischen Grenzüberschreitungen der EZB ohne Richter und ohne Folgen bleiben. Ja, das Verfassungsgericht selbst hat sogar den Hinweis gegeben, dass es demokratisch legitimierte Änderungen der erwähnten stabilitätspolitischen Grundsätze nicht zwangsläufig als verfassungswidrig ansähe.

Erwartungsgemäß hat das Gericht den Ball der Euro-Rettung dorthin gespielt, wo er hingehört: ins Feld der Politik. Selbst wenn die Richter der Überzeugung wären, dass die Verträge zur Euro-Rettung für Deutschland schädlich seien, dürften sie sie nicht blockieren, wenn ihr Zustandekommen verfassungsgemäß erfolgte. Den gewählten Politikern hat das Gericht einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der vertretbaren Belastungen und der Einschränkung der Haushaltsautonomie des Bundestages zur Verwirklichung der Währungsunion eingeräumt. Dabei darf der Gesetzgeber ausdrücklich auch die Folgen alternativer Handlungsoptionen berücksichtigen, also die schwerwiegenden, aber kaum abschätzbaren Folgen für Deutschland im Falle des Scheiterns der Währungsunion. Damit ist klar: Um die Weiterentwicklung Eurolands müssen die Politiker ringen und bei ihren Wählern werben. Wem die Fahrt in die europäische Haftungsunion nicht passt, kann auch künftig nicht darauf hoffen, das Verfassungsgericht zum Bremsklotz zu instrumentalisieren. Das ist gut so. Denn so wenig die Zukunft Eurolands und die damit verbundenen finanziellen Lasten der Bürger in Brüsseler Hinterzimmern ausgekungelt werden dürfen, so wenig darf man sie Karlsruher Richtern überlassen. Zum Handeln sind diejenigen berufen, die das Volk gewählt hat, stellte das Gericht die eigene Rolle klar. Daran sollte sich die andere von der Politik unabhängige und nicht durch demokratische Wahl legitimierte Instition, die EZB, ein Vorbild nehmen. Den Politikern sei Voßkuhles Mahnung zum Auswendiglernen empfohlen: "Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft."

(Börsen-Zeitung, 13.9.2012)

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