Börsen-Zeitung: Ist das schon alles gewesen?, ein Marktkommentar von Dieter Kuckelkorn
Frankfurt (ots)
Ist das schon alles gewesen? Das muss man sich fragen, wenn man sich die Reaktionen der Kapitalmärkte auf das britische Votum für einen Austritt aus der Europäischen Union (Brexit) ansieht.
Während kontinentaleuropäische Politiker und auch britische Brexit-Gegner keine Gelegenheit auslassen, die britischen Wähler zumindest verbal für ihre Entscheidung abzustrafen, indem sie die Zukunft in möglichst düsteren Farben malen, machen die Märkte auf Tiefenentspannung. Die starken Verluste und die extreme Nervosität haben gerade einmal zwei Handelstage angehalten. Die Erholung, die daraufhin einsetzte, hat sich bislang als recht tragfähig erwiesen.
So steht der FTSE 100 mittlerweile auf einem höheren Niveau als unmittelbar vor der Entscheidung. Im bisherigen Jahresverlauf hat er 7,2 Prozent zugelegt. Vergleicht man dies mit der Performance anderer europäischer Aktienindizes, so könnte man meinen, dass eher ein "Gexit" oder noch naheliegender ein "Italexit" auf dem Programm steht: Der Dax hat im Vergleich zu seinem Stand vom Jahresanfang 9,4 Prozent eingebüßt, der FTSE Mib sogar 22,3 Prozent.
Nun ist das Bild sicher nicht vollständig, wenn man neben den Aktien nicht auch die anderen Märkte betrachtet. An den Renditeniveaus von Staatsanleihen aus Kernstaaten wie Deutschland oder den USA lässt sich schon eine Flucht in Qualität ablesen. Zudem stehen Yen und Schweizer Franken unter starkem Aufwertungsdruck, das Pfund hat noch keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, seine hohen Verluste nach dem Brexit-Votum auszugleichen. Zudem hat der Goldpreis seit Jahresanfang kräftig zugelegt. Angesichts eines Niveaus von rund 1330 Dollar je Feinunze lässt sich aber kaum von tiefgreifender Panik an den Finanzmärkten sprechen.
Für die erstaunliche Ruhe an den Aktienmärkten gibt es mehrere Gründe. So glaubt die Mehrheit der Marktteilnehmer schlicht nicht an das von vielen EU-Politikern gezeichnete Bild einer völligen Abnabelung Großbritanniens von der Union mit desaströsen Konsequenzen. Das Szenario einer künftigen Sonderstellung der Briten nach dem Vorbild der Schweizer wird letztlich für wesentlich wahrscheinlicher gehalten.
Dahinter steckt folgendes Kalkül: Mit einer ökonomischen Abstrafung Großbritanniens würden sich auch EU-Kernländer wie Deutschland selbst erheblich wehtun. Letztlich ist es kaum denkbar, dass eine harte Trennung von Großbritannien gegen den Widerstand der Bundesregierung möglich wäre. In Berlin wiederum haben Branchen wie die Autoindustrie und die Banken einen besonderen Einfluss und ein großes Interesse daran, dass sich an den ökonomischen Realitäten möglichst wenig verändert. Wenn sich die öffentliche Aufregung in Europa in ein paar Monaten gelegt hat, so glaubt man an den Märkten, dürfte in den Hinterzimmern in Brüssel eine für alle Seiten akzeptable Lösung ausgehandelt werden.
Zudem sehen mittlerweile die Fundamentaldaten am deutschen und europäischen Aktienmarkt wieder recht attraktiv aus. Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis ist das Bewertungsniveau deutlich niedriger als an den US-Börsen. Nach der Korrektur, die übrigens auch ohne Brexit zu erwarten gewesen wäre, sind die erwarteten Dividendenrenditen mit 3,5 Prozent für den Dax und 4,2 Prozent für den Euro Stoxx 50 wieder deutlich angestiegen. Demgegenüber sind die Renditen zehnjähriger deutscher Staatsanleihen auf ein neues Allzeittief gesunken. Es mangelt also nach wie vor an alternativen Anlagemöglichkeiten.
Auf absehbare Zeit dürfte zudem die Gewinnentwicklung der Unternehmen stabil bleiben. An eine Rezession im kommenden Jahr als Folge der Brexit-Entscheidung glaubt kaum jemand - sonst würde der Dax bereits jetzt deutlich unter Druck geraten, weil seine Mitgliedskonzerne rund 53 Prozent ihrer Umsätze in Europa erzielen. Nicht wenige Analysten raten gegenwärtig dazu, die niedrigen Kurse für Käufe zu nutzen. Außerdem ist man sich sicher, dass die Notenbanken bei Bedarf zur Unterstützung der Märkte herbeieilen werden.
Allerdings gilt es eine Gefahr zu beachten: Sollte sich wider Erwarten doch abzeichnen, dass die Briten für ihre Entscheidung büßen sollen, wird die Erholung sofort in sich zusammenbrechen.
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