Börsen-Zeitung: Leere Drohung, Kommentar zu Schottland von Andreas Hippin
Frankfurt (ots)
Die EU braucht nichts weniger als ein neues Mitglied, dessen Haushaltsdefizit sich bald auf ein Zehntel seines Bruttoinlandsprodukts beläuft. Trotzdem glauben die schottischen Nationalisten offenbar, der unter der Last seiner sozialen Wohltaten ächzende Ölstaat im Norden Europas würde von Brüssel mit offenen Armen empfangen, wenn er sich einmal aus der Umklammerung Restbritanniens lösen sollte. Schwer vorstellbar auch, dass EU-Staaten wie Frankreich oder Spanien dem Unabhängigkeitsstreben von Basken, Katalanen oder Korsen durch ein herzliches Willkommen für Schottland Vorschub leisten wollen.
Nicola Sturgeon, die Führerin der schottischen Nationalisten, droht seit der britischen Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft dennoch bei jeder Gelegenheit mit einem neuen Referendum über den Fortbestand des Vereinigten Königreichs. Schließlich habe sich eine klare Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der europäischen Staatengemeinschaft ausgesprochen. Wenn Westminster nun den EU-Austritt vorantreibe, müsse sie alles tun, um die Interessen Schottlands zu wahren. Dazu gehört das Gerede über einen Verbleib im Binnenmarkt für den Fall, dass die britische Regierung es vorziehen sollte, die Freizügigkeit im Personenverkehr einzuschränken. Werden dann Grenzkontrollen im Norden Englands eingeführt? Mit solchen Details gibt sich Sturgeon nicht ab. Wenn es darum geht, den Brexit zu verhindern, arbeitet sie mit Labour-Abgeordneten ebenso zusammen wie mit Liberaldemokraten und austrittsunwilligen Tories.
Es mag vielen schottischen Nationalisten nicht auffallen, aber sie werden von den EU-Austrittsgegnern vor den Karren gespannt, die ihre Niederlage bei der Volksabstimmung im Juni immer noch nicht akzeptieren wollen. Sturgeon hätte man für intelligenter gehalten, schließlich haben die Nationalisten unter ihrer Führung bei den Unterhauswahlen im vergangenen Jahr einen geradezu erdrutschartigen Sieg davongetragen. Aber offenbar ist der Druck von Teilen der Partei zu groß. Dort glaubt man wohl ernsthaft, die staatliche Unabhängigkeit im zweiten Anlauf doch noch erreichen zu können.
Sollen die Schotten ruhig erneut abstimmen. Es ist nur eine leere Drohung. Meinungsforschern zufolge ist eine Mehrheit unter den gegebenen Umständen dagegen, den Sprung in die Unabhängigkeit zu wagen. Und wer würde schon erst mühsam für die Souveränität kämpfen wollen, um sie dann schnellstmöglich an Brüssel abzugeben?
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