In die goldenen Zwanziger
Kommentar zur realwirtschaftlichen Abkopplung des Aktienmarkts von Dieter Kuckelkorn
Frankfurt (ots)
US-Präsident Donald Trump hat sich jüngst äußerst zufrieden gezeigt mit der Entwicklung der aus seiner Sicht wichtigsten volkswirtschaftlichen Größe, nämlich der Entwicklung des amerikanischen Aktienmarktes: "Wir werden ein großartiges drittes Quartal haben und hervorragende Zahlen vom Aktienmarkt", stellte er am Dienstag in Aussicht. Bislang hat es in der Tat eine bemerkenswerte Erholung an der Wall Street gegeben. Vorangeprescht waren die Technologiewerte. Nun hat aber auch der breitere S&P 500 sämtliche Verluste im Rahmen der Coronavirus-Krise aufgeholt. Er hat quasi Rekordniveau erreicht und strengt sich derzeit an, den bisherigen Höchststand in den Schatten zu stellen.
Die große Mehrheit der US-Bürger würde hingegen wohl der Aussage, es gehe ihnen so gut wie niemals zuvor, derzeit nicht zustimmen. Noch sind 28,3 Millionen Amerikaner auf Arbeitslosenhilfe der US-Regierung oder der Bundesstaaten angewiesen. In den vergangenen vier Wochen haben weitere sechs Millionen US-Bürger ihren Arbeitsplatz verloren. Und diejenigen, die ihren Arbeitsplatz bislang behalten haben, müssen oftmals bedeutende Einkommensverluste akzeptieren. Die Krise hat sich zwar leicht entschärft. Sie dominiert das Land aber noch lange.
Und auch die übergroße Zahl der US-Unternehmen teilt die Champagnerlaune des Präsidenten wohl eher nicht. Schon vor dem Beginn der Coronavirus-Krise stand das Land vor einer Rezession. Die Profitabilität des gesamten - also nicht nur des börsennotierten - Unternehmenssektors befindet sich in einem langfristigen Abwärtstrend, die Investitionsquoten sind stark zurückgegangen. Die Pandemie dürfte die Zahl der Zombie-Unternehmen, die sich gerade über Wasser halten, noch einmal deutlich erhöhen.
Im zweiten Quartal ist das amerikanische Bruttoinlandsprodukt mit einer rekordhohen Jahresrate von 32,9% geschrumpft. Am Leben gehalten wird die US-Wirtschaft von den enormen staatlichen Hilfen. So wird geschätzt, dass das Haushaltsdefizit im laufenden Jahr 18% des Bruttoinlandsproduktes erreichen wird, dies ist der höchste Stand seit 75 Jahren. Allerdings ist in die Prognose bereits das derzeit noch heftig umstrittene neue Konjunkturpaket in Billionenhöhe einbezogen. Sollte dieses am Parteienstreit scheitern, verschlechtern sich die kurz- bis mittelfristigen Aussichten für die US-Volkswirtschaft deutlich. Man kann somit von einer Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Realwirtschaft und des Aktienmarktes sprechen, wie es sie in den USA noch niemals gegeben hat.
Dies alles muss freilich nicht bedeuten, dass der S&P 500 vor einem Crash oder auch nur einer ausgeprägten Korrektur stünde. Die Unternehmen aus dem S&P 500 stellen die Elite der amerikanischen Unternehmen dar. Sie verfügen über erhebliche Marktmacht, fast unbegrenzte Finanzmittel und erheblichen Einfluss auf die Politik, um für sich auch in der Krise günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, um so ihre Ertragskraft zu erhalten und zu stärken. Daher sind auch die Bewertungen am Aktienmarkt längst nicht in astronomische Höhen entrückt. Der S&P 500 kommt aktuell auf ein vorwärts gerichtetes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 21,7. Damit befindet er sich zwar am oberen Ende der Spanne der vergangenen zehn Jahre (vgl. Grafik). Im Rahmen der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende und der Finanzkrise waren die Bewertungen aber deutlich höher.
Daher sehen auch die meisten Analysten keinen Crash aufziehen. So veranschlagt etwa Goldman Sachs für den S&P 500 ein Potenzial noch bis 3600 Punkte, ausgehend von aktuell rund 3370 Zählern. Der früher bei der Deutschen Bank beschäftigte Ed Yardeni erwartet am Aktienmarkt gar die "Roaring 2020s" in Anspielung auf die überschwänglichen "goldenen" zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Prognose mag etwas übertrieben erscheinen. Sie zeigt aber, dass US-Marktteilnehmer sich vom trüben Zustand der US-Realwirtschaft nicht die Stimmung vermiesen lassen. Sie dürfen darauf hoffen, dass das geldpolitische Umfeld noch viele Jahre ultralocker bleiben wird. Ein Kurswechsel der Fed mit dem Ziel einer "Normalisierung" der Geldpolitik würde nämlich der fragilen US-Konjunktur umgehend den Garaus machen.
(Börsen-Zeitung, 15.08.2020)
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