Zensur und Zäsur, Kommentar zu Twitter von Stefan Reccius
Frankfurt (ots)
Mit den Achseln zucken und die eigene Verantwortung klein reden: Darin sind Twitter-Chef Jack Dorsey und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg groß. Nutzer ihrer Dienste bis hinauf zum mächtigsten Mann der Welt lügen, denunzieren, manipulieren, stiften zu Gewalt an - und die Elite des Silicon Valley? Erklärt sich für unzuständig: Wir stellen doch bloß die Plattform!
Mit dieser Scheinheiligkeit ist es vorbei - nicht etwa auf Drängen der Politik, sondern auf eigenes Betreiben. Weil Dorsey das Risiko einer weiteren Anstiftung zur Gewalt sah, hat sein Milliardenkonzern Donald Trumps Kurznachrichten-Kanal abgeschaltet und eine Kettenreaktion ausgelöst: Facebook und etliche weitere Netzwerke haben ihn ebenfalls ausgesperrt. Am Montag folgte Amazon, indem der Konzern von Jeff Bezos seine Dienste für die Kommunikationsplattform Parler eingestellt hat - mit der Folge, dass die von Trump-Fans frequentierte Alternative zu Twitter nicht mehr funktioniert.
Der kollektive Maulkorb für den Präsidenten der Vereinigten Staaten ist für sich genommen von historischer Tragweite, aber der Vorgang ist noch viel mehr: eine Zäsur - für Demokratie und Tech-Konzerne. Während eine von den Demokraten im Eiltempo angestoßene Amtsenthebung Wochen, wenn nicht Monate dauern wird, vollziehen Konzerne das digitale Impeachment im Handstreich. Von einem Tag auf den nächsten haben sie dem Anführer der weltgrößten Volkswirtschaft das Rederecht entzogen. Dafür mag es gute Gründe geben, weil Trump sein Amt missbraucht und die Verfassung verletzt hat - aber noch ist er der demokratisch legitimierte Staatschef. Eindrucksvoller konnten Twitter und Co. ihre Macht nicht demonstrieren.
Dass es um mehr als eine Gesetzeslücke geht, dämmert nun Spitzenpolitikern. Kanzlerin Angela Merkel hält den Bann für "problematisch", weil nur der Gesetzgeber das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschränken dürfe. Subtext: Wer zensiert wird, entscheiden wir. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton verglich den nötigen Paradigmenwechsel mit der Sicherheitspolitik nach den Anschlägen des 11. September. Zu spät ist die Politik aufgewacht, zu lange hat sie das Versteckspiel der Konzerne toleriert, statt diese zu domestizieren und ihre eigene Wehrhaftigkeit zu stärken. Anleger beginnen zu realisieren, dass strengere Regeln unumgänglich sind, wie der Kursrutsch zeigt. Dorsey und Co. haben erst mit Trump gebrochen, als dessen Ende besiegelt war. Hinter Twitters Tabubruch steckt daher neben schlechtem Gewissen eine gehörige Portion Opportunismus.
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