Eine etwas andere Krise, Kommentar zu Siemens von Michael Flämig
München (ots)
Was für Zeiten! Die Welt hat die ökonomischen Folgen der Pandemie abgeschüttelt und strebt neuen Höhen entgegen. Pars pro toto für die deutsche Wirtschaft illustriert dies einmal mehr Siemens. Der Münchner Konzern erhöht mit Vorlage der Neunmonatszahlen zum dritten Mal die Umsatz- und Gewinnprognosen für das im September auslaufende Geschäftsjahr. Der Aktienkurs nähert sich wieder seinem Rekordhoch. Der Himmel scheint voller Geigen zu hängen.
Doch so eindeutig ist die Lage leider nicht. Zwar erhöht jeder Vorstand lieber die Prognose, als sie zu senken. Und natürlich ist es ein Segen, dass die Wirtschaft als Ganzes die Coronakrise abgeschüttelt hat. Aber trotzdem befindet sich die Konjunktur erneut in einem Ungleichgewicht. Es ist eine Krise der anderen Art, die Unternehmen an allen Ecken und Enden erleben. Sie verursacht weniger Schmerzen als eine Baisse, birgt aber die Gefahr von Fehlallokationen.
Der Fall Siemens illustriert den Ausnahmecharakter dieser Phänomene. Seit der Finanzkrise fühlt Ralf Thomas dem Siemens-Kerngeschäft Industrie den Puls, erst als Finanzvorstand des Sektors und dann des gesamten Konzerns. Doch eine solche Situation habe er noch nie in seinem Berufsleben beobachtet, berichtet er bei Vorlage der Quartalszahlen. Denn der Siemens-Auftragsbestand im kurzzyklischen Geschäft, der normalerweise schnell dreht und damit sehr bald nach Bestellung abgearbeitet ist, sei aktuell dreimal so hoch wie in normalen Zeiten.
Man mag sagen: na und? Schließlich garantiert ein hoher Auftragsbestand gute Geschäfte. Das stimmt zwar einerseits. Aber andererseits ist das dicke Orderbuch Ausdruck gravierender Probleme. Die Angst der Kunden vor verlängerten Lieferzeiten trägt zur Bestellorgie bei. Dieses Verhalten ist rational. Schließlich hat sich Thomas zufolge die Zeit, die Fracht auf dem Schiff unterwegs ist, in den vergangenen drei Monaten verdoppelt. Vor allem aber fehlen Komponenten wie Chips für die Produktion. Die Folge: Siemens kämpft darum, die Auslastung der eigenen Fabriken bei den maximal möglichen 90 Prozent zu halten. Bisher gelingt dies meist, weil Fertigungsschritte regelmäßig umgeplant werden. Eine Garantie für die Zukunft ist dies nicht, wie das Beispiel Autoindustrie zeigt.
Der weltweiten Nachfrage-Angebot-Struktur fehlt momentan die Balance. Auch wenn die Wirtschaft das Corona-Tal hinter sich gelassen hat und die Börsen in geldpolitisch unterstützten Höhenflügen schwelgen, sind die ökonomischen Folgen der Pandemie nicht überwunden.
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