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Börsen-Zeitung: Umbruch bei Siemens, Leitartikel von Claus Döring zur Siemens-Bilanzpressekonferenz

Frankfurt (ots)

Dieser Siemens-Abschluss schreibt sich „von“.
Heinrich v. Pierer verabschiedet sich mit einer starken Bilanz als
Vorstandsvorsitzender. In seiner 13. Jahrespressekonferenz als
Siemens-Chef konnte Pierer ein Zahlenwerk präsentieren, das in seiner
Qualität und finanziellen Solidität die strukturellen
Ertragsfortschritte in dem Konzern spiegelt. Natürlich sind
Jahresabschlüsse Momentaufnahmen, wohl arrangierte zumal. Doch die
zum Gruppenbild angetretene Siemens-Familie hat Schminke kaum nötig.
Die wenigen Blessuren des Berichtsjahres – 400 Mill. Euro Belastung
bei den Combino-Straßenbahnen und 152 Mill. Euro Verlust bei
Mobiltelefonen – haben mehr das Image des Konzerns und die
Aktienkursentwicklung beeinflusst als das Zahlenwerk selbst.
Sowenig sinnvoll es ist, die einzelnen Zahlen des Jahres 2004 mit
jenen von 1992 vor Pierers Amtsantritt zu vergleichen, so zulässig
ist aber die grundsätzliche Aussage, dass Siemens heute in einer
anderen Ergebnisliga spielt. Aus 75 Mrd. Euro Umsatz ein operatives
Ergebnis von 5 Mrd. Euro bzw. einen Gewinn nach Steuern von 3,4 Mrd.
Euro zu ziehen, mag auf den ersten Blick nicht sonderlich berauschen.
Doch Siemens verdient seine Kapitalkosten und hat den darüber hinaus
erwirtschafteten Mehrwert, den so genannten Geschäftswertbeitrag,
signifikant auf 1,4 Mrd. Euro nach oben geschraubt. Alle Bereiche
außer der von Qualitätsproblemen getroffenen Verkehrstechnik
schreiben schwarze Zahlen, und sechs der 13 Bereiche haben inzwischen
die Zielrenditen erreicht. Siemens’ Stärke spiegelt sich nicht
zuletzt im freien Cash-flow, der sich auf 3,3 Mrd. Euro positiven
Geldsaldo praktisch verdoppelt hat.
Übergibt Pierer also ein bestens bestelltes Haus an seinen
Nachfolger Klaus Kleinfeld? Nur zum Teil. Zum einen finden sich in
einem global tätigen Konzern, mit einer vom Handy bis zum Kraftwerk
reichenden Produktpalette, immer einige Sorgenkinder. Zum anderen,
und das wiegt schwerer, steht das Unternehmen vor Herausforderungen,
die im Hause Siemens geahnt, aber noch nicht auf breiter Ebene
diskutiert werden.
Da ist zum einen das Kostenproblem. Siemens, wiewohl von Geburt an
global, hat sich erst in der Ära Pierer zum wirklich globalen Konzern
gewandelt. Dies zeigt sich an der Umsatzstruktur, die für den
Heimatmarkt nur noch 20% ausweist; als Pierer antrat, waren es etwa
50%. Dies zeigt sich weiterhin an der Entwicklung der Beschäftigung,
wo zuletzt einem Rückgang im Inland um 6000 Stellen ein Zuwachs im
Ausland um 19000 gegenüberstand. Doch noch immer stehen mit 164000
Mitarbeitern knapp 40% des Personals in Deutschland auf der
Gehaltsliste. Das bedeutet, dass 60 bis 70% der Kosten des Konzerns
in Deutschland anfallen, obwohl dieser Markt und dieser Standort
fortwährend an Bedeutung verliert. Siemens veröffentlicht zwar keine
Ergebnisse für Regionen oder Länder. Doch es bedarf nicht viel
Phantasie für die Vermutung, dass der Ergebnisbeitrag Deutschlands
bei Siemens weit unter dem Umsatzanteil liegt, wenn er denn überhaupt
erkennbar ist. Der Druck wird zunehmen, hier zu einem ausgewogeneren
Verhältnis zu kommen. Darin liegt eine der großen Herausforderungen
für Kleinfeld. Angesichts der Größenordnungen, um die es gehen wird,
waren die Auseinandersetzungen im Sommer um die Rückkehr zur
40-Stunden-Woche im Handy-Werk Kamp-Lintfort nur Fingerübungen.
Das andere große Thema für Kleinfeld zeichnet sich im Portfolio
ab. Konkret geht es um die Zukunft des zum 1. Oktober neu formierten
Bereichs Communications. Mit 18 Mrd. Euro Umsatz ist dies nicht nur
der mit Abstand größte Siemens-Bereich, er steht auch für die Wurzeln
des 1847 als „Telegraphen-Bauanstalt“ gegründeten Konzerns. Mit dem
Vordringen der Internet-Telefonie stehen Umbrüche bevor, die alle
Kommunikationskonzerne und ihre Ausrüster im Kern treffen werden.
Wird Siemens dieses identitätsstiftende Traditionsgeschäft, dessen
Ertragskraft jahrzehntelang die übrigen Aktivitäten durchfütterte,
zur Disposition stellen können? Vor diesem Hintergrund verblasst die
aktuell zu lösende Frage, ob und wie lange sich Siemens noch
eigenständig als Handy-Produzent behaupten will. Mit einem
Massenprodukt, bei dem Economies of Scale den Ausschlag geben, hat
Siemens als Nummer 4 des Weltmarktes wenig Aussicht, jemals die
Kapitalkosten zu verdienen, zumal dieses kurzfristigen Modetrends
unterworfene Endverbrauchergeschäft nicht zu Siemens passt.
Als Kombination von „Kontinuität und Wandel“ beschreibt Pierer das
Selbstverständnis von Siemens. Dies lässt sich auch auf die
Rollenverteilung des künftigen Aufsichtsratsvorsitzenden Pierer und
des künftigen Vorstandsvorsitzenden Kleinfeld übertragen. Auf die
Kontinuität – sprich Beschränkung auf Elektrotechnik und Elektronik,
Globalität, Innovation, Kunden- und Mitarbeiterverantwortung und
finanzielle Solidität – wird Pierer achten. Für den Wandel ist
Kleinfeld zuständig. Der künftige Siemens-Chef, zuvor im
Konzernvorstand auch für Unternehmensstrategie zuständig, soll hier
schon in der Vergangenheit etwas weiter gehende Vorstellungen
entwickelt haben. Die Verschiebungen im Portfolio und im Regionenmix
dürften sich also beschleunigen, zumal Siemens das Wachstum auch
durch Akquisitionen vorantreiben will. Hierfür den Boden bereitet zu
haben, indem er die Unternehmenskultur veränderte und durch
Ausleseprozesse eine fähige Führungsmannschaft heranzog, ist Pierers
bleibendes Verdienst.
(Börsen-Zeitung, 12.11.2004)
ots-Originaltext: Börsen-Zeitung

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