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Börsen-Zeitung: Deutschland bewegt sich, Leitartikel von Claus Döring zur Lage Deutschlands am Jahreswechsel

Frankfurt (ots)

Angesichts der Schreckensbilder aus Südostasien
werden vielen Bürgern die „Probleme“ hier in Deutschland gering
erscheinen. Wachstumsschwäche, Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit –
was ist das gegen die existenziellen Nöte der von der Flutkatastrophe
betroffenen Menschen in Asien? Doch den Zerstörungen wird der Aufbau
folgen, in den Ländern Asiens bekanntlich mit enormer Dynamik. So wie
in Deutschland einst die Zerstörungen des Krieges Grundlage des
späteren Wirtschaftswunders waren, so wird in Asien die kollektive
Anstrengung den wirtschaftlichen Rückschlag bald vergessen lassen.
In der deutschen Wohlstandsgesellschaft dagegen ist die
Bereitschaft zum Ärmelhochkrempeln verkümmert. Die Grundlagen des
wirtschaftlichen Erfolgs wurden vernachlässigt: Bildung und
Leistungsbereitschaft, Innovation und Wachstum. Erst allmählich wird
erkannt, dass allein Wachstum Deutschland vor einem massiven
Wohlstandsverlust bewahren kann. Wer sich mit dem zufrieden gibt, was
er hat, wird im Wohlstandsniveau relativ und absolut abrutschen. Die
Krise der Staatsfinanzen, der Altersvorsorge, der Krankenkassen, am
Arbeitsmarkt – nur kräftiges Wirtschaftswachstum kann sie lösen.
Investitionen sind die Voraussetzung für Wachstum, und zwar in
Humankapital und Sachkapital. Dass in Deutschland die Investitionen
in Humankapital jahrelang sträflich vernachlässigt wurden, ist seit
den Pisa-Studien Allgemeingut. Daher kann man sich nur die Augen
reiben, mit welcher Gleichgültigkeit die Politik bisher auf diesen
Abschreibungsbedarf bei unserem wichtigsten Rohstoff reagiert.
Reformansätze versinken im Kompetenzgerangel zwischen Bund und
Ländern. Noch zehrt der Standort Deutschland vom guten Ruf im
Ausland, der durch Fleiß und Leistungsbereitschaft in früheren
Jahrzehnten erworben wurde. Dieses Kapital muss wieder aufgestockt
werden. Denn Bildung ist Voraussetzung für Innovation, und
Innovationen sind nachwachsende Wirtschaftskraft.
Es muss mehr investiert werden. Nicht vom Staat, wie es die Neo-
Keynesianer allenthalben fordern. Denn staatliche Investitionen
fördern die Verschwendung von Kapital. Die Investitionen müssen von
privater Seite erfolgen. Das sichert effiziente Mittelverwendung.
Hierfür attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen, ist allerdings
Aufgabe des Staates. Dazu gehört, der privaten Wirtschaft mehr
Spielraum für Investitionen zu lassen. Deshalb sind weitere
Steuersenkungen nötig, bei den Unternehmenssteuern wie bei der
Einkommensteuer.
Die zum 1. Januar wirksam werdende dritte Stufe der Steuerreform
reicht nicht. Unser Steuersystem ist immer noch wachstumsfeindlich.
Durch die progressive Einkommensbesteuerung wird jede zusätzliche
Anstrengung schlechter gestellt, also bestraft. Was hätte in der
Unternehmensbesteuerung ein progressiver Körperschaftsteuersatz für
Folgen? Der Anreiz für höhere Gewinne und damit Wachstum würde
schwinden. Beim Bürger verhält es sich ähnlich. Für den
Progressionstarif gibt es keine vernünftige Begründung, er beruht auf
ideologischem Umverteilungsdenken und einem überholten
Gerechtigkeitsbegriff. Die Wachstumskräfte, die mit der Abschaffung
der Progression zu entfesseln wären, würden dem Staat mehr Steuern
bescheren als das Verharren auf dem Status quo.
Viele Unternehmen sind mit ihren Hausaufgaben auf der Kostenseite
gut vorangekommen. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie
ist gestiegen, wie nicht nur die Ausfuhrerfolge, sondern auch die
Ertragsentwicklung vieler Unternehmen zeigen. Mit der Verlagerung von
Wertschöpfung ins Ausland hat sich die Konkurrenzfähigkeit der im
Lande verbliebenen Produktion verbessert. Dank Globalisierung können
so die Folgen verfehlter Wirtschafts- und Tarifpolitik gelindert
werden. Die Problemfälle des Jahres waren jene Unternehmen, die diese
Chancen nicht genutzt haben, wie Karstadt oder Opel. Doch
Kostenmanagement allein bringt nicht voran. „Controller können einem
Unternehmen Schlankheitspillen verordnen, aber die Wachstumshormone
kommen aus den Forschungslabors“, sagte einmal der frühere
Degussa-Chef Gert Becker. Auch Unternehmen müssen wachsen. Nicht nur
um auf das investierte Kapital eine Verzinsung zu verdienen.
Wachsende Unternehmen können Marktveränderungen abfedern, Mitarbeiter
mit neuen Aufgaben in Beschäftigung halten.
Gleiches gilt für die Volkswirtschaft. Voraussetzung ist
allerdings die Bereitschaft zu Flexibilität, zur Annahme angebotener
Jobs. Diese Bereitschaft wird sich mit Hartz IV, der Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, erhöhen. Die Reformen, die zum
Jahreswechsel in Kraft treten, beweisen: Deutschland bewegt sich. Nur
noch nicht schnell genug.
(Börsen-Zeitung, 31.12.2004)
ots-Originaltext: Börsen-Zeitung

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