Börsen-Zeitung: Pierers Verantwortlichkeit, Leitartikel von Bernd Wittkowski zum Rücktritt Heinrich v. Pierers als Siemens-Aufsichtsratsvorsitzender
Frankfurt (ots)
Wer einen Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche beauftragen. Damit soll keineswegs unterstellt werden, dass Heinrich v. Pierer durch eine aktive Rolle in die diversen Korruptionsskandale des Siemens-Konzerns verstrickt wäre. Noch gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung, auch für Manager - mögen manche Politiker, Gewerkschafter oder andere Meinungsmacher diesen strafrechtlichen Grundsatz auch bisweilen nonchalant ignorieren. Aber als oberster Aufklärer der auf seine Zeit als Vorstandschef zurückgehenden mutmaßlichen schweren Verstöße gegen Gesetze und interne Regeln war der Aufsichtsratsvorsitzende von Anfang an eine Fehlbesetzung.
Pierers nun angekündigter Rücktritt, der an der Börse mit einer Marktwertsteigerung von reichlich 3 Mrd. Euro begrüßt wurde (das Erreichen der Renditeziele im abgelaufenen Quartal kann die Investoren ja kaum noch groß überrascht haben), war überfällig. Der Schritt lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als souveräne Entscheidung eines Befangenen vermitteln, der die Aufklärung im besten Sinne des Unternehmens Unbefangeneren überträgt. Er kommt beim Publikum eher an als Abgang eines Getriebenen, der sich nach einem quälend langen Prozess in sein Schicksal fügt. Oder was soll sich seit dem vorigen Herbst, als die Schmiergeldzahlungen ruchbar wurden, geändert haben, um den Rückzug heute zu begründen und damals nicht? Wirklich aufgeklärt ist in diesem Wirtschaftskrimi noch gar nichts. Es leuchtet auch nicht ein, warum der von Pierer angeführte Vorrang seiner Pflicht gegenüber dem Unternehmen und dessen Beschäftigten vor eigenen Interessen nicht schon vor einem halben Jahr bestanden haben soll.
Also bessere Erkenntnis oder Einsicht? Zweifel sind erlaubt. "Eine persönliche Verantwortlichkeit mit Blick auf die laufenden Ermittlungen war nicht Grundlage meiner Entscheidung", erklärt Pierer. Diese sophistische Delikatesse muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Klar: Bis dato gibt es keine Rechtfertigung dafür, Wertberichtigungen an der persönlichen Integrität des Ausnahmemanagers vorzunehmen. Ebenso wenig sind per heute Abschreibungen an seinen einzigartigen Verdiensten um den Technologiekonzern zulässig. Und man darf durchaus einen gewissen Goodwill dafür gewähren, dass dieser glanzlose Abschluss einer großartigen beruflichen Lebensleistung menschlich eine Tragödie bedeutet.
Aber soll etwa ein Vorstandschef nicht persönlich verantwortlich sein, wenn in dem von ihm geführten Unternehmen bis in hohe Leitungsebenen ein monströses System schwarzer Kassen betrieben wird und dubiose Beraterhonorare in Millionenhöhe ohne adäquate Gegenleistung gezahlt werden? Niemand erwartet von einem Unternehmensführer, dass er höchstpersönlich in den Kerker geht, wenn ein Untergebener silberne Löffel klaut und rechtskräftig verurteilt wird. Aber selbstverständlich haben der Vorstand und sein Vorsitzender zu verantworten, was in einer Aktiengesellschaft geschieht - nicht zuletzt moralisch. Und diese Verantwortlichkeit, die sich aus der vom Mandat bestimmten Verantwortung ableitet, gilt nicht allein für das, was der Vorstand und sein Vorsitzender wissen. Sie gilt auch für das, was sie nicht wissen, aber besser wissen sollten und was sie hoffentlich nicht nur deshalb nicht wissen, weil sie es nicht wissen wollen. Dass Schmiergeldzahlungen "vielen im Hause Siemens bekannt" waren, ist gerichtsnotorisch. Darüber, dass der Konzernchef davon nichts mitbekommen hat, darf man sich zumindest wundern. Dass frühere Bemühungen im Kampf gegen die Korruption unter seiner Ägide nicht nachhaltig erfolgreich waren, hat Pierer immerhin schon früher eingeräumt. Auch das kein Thema der persönlichen Verantwortlichkeit?
Dass Siemens nun, wie erhofft, schnell aus den negativen Schlagzeilen herauskommt, ist ein frommer Wunsch. Vorstandschef Klaus Kleinfeld selbst hat kürzlich angedroht, dass "weitere neue Sachen aufkommen" werden - der Mann hat Realitätssinn. So kann auch der künftige Aufsichtsratsvorsitzende Gerhard Cromme nur abwarten, welche weiteren Erkenntnisse die interne Task Force, externe Antikorruptionsexperten und Strafverfolger gewinnen und mit welchen juristischen Konsequenzen sie die Ermittlungsergebnisse aufarbeiten werden. Crommes Vorteil: Er ist im Gegensatz zu Pierer unbefangen. Das ändert indes nichts daran, dass jedes neue Kapitel, das zu dieser Finanzaffäre geschrieben werden muss, immer wieder durchaus erfreuliche geschäftliche Entwicklungen überlagern und neuerliche Imageschäden verursachen wird - womöglich mit negativen Rückwirkungen auf das Geschäft.
Ist Pierers Rücktritt nun ein Beweis für die These, dass ein früherer Vorstandschef an der Spitze des Aufsichtsrats nichts verloren hat? In dieser Verallgemeinerung sicher nicht. Zum Glück wird nicht jeder Vorsitzende eines Kontrollorgans von einer strafrechtlich relevanten Vergangenheit eingeholt, in der er Verantwortung und persönliche Verantwortlichkeit für das von ihm geführte Unternehmen trug. Eine generelle Ablehnung des Wechsels vom Vorstands- in den Aufsichtsratsvorsitz lässt sich mit dem Fall Siemens mithin nicht begründen. Wohl aber liefert dieser Fall starke Indizien dafür, dass ein Aufsichtsratsvorsitzender, dem Derartiges widerfährt, gebotene persönliche Konsequenzen beizeiten ziehen sollte. Pierer zieht sie zu spät.
(Börsen-Zeitung, 21.4.2007)
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