Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 19. Oktober 2010 die politische Debatte über Fachkräftemangel und Zuwanderung in Deutschland:
Bremen (ots)
Die Richtung stimmt
von Joerg Helge Wagner Endlich! In der bisher eher emotional als rational geführten Zuwanderungsdebatte übt die Regierung nun die notwendige Differenzierung - dass sie das weitgehend unter Ausschluss der CSU tut, ist keineswegs ein Nachteil. Nun muss sich bloß noch die Kanzlerin entscheiden, wohin sie ihre Richtlinienkompetenz lenken will. Die grobe Orientierung, eher von den reformbereiten Kabinettsmitgliedern als vom Kanzleramt erarbeitet, stimmt ja. Schärfere Maßnahmen gegen jene, die hier bloß ihre Partnergesellschaften mit öffentlichen Mitteln alimentieren wollen, sind überfällig. Wenn der Ankündigung auch der rasche Vollzug folgt, dürfte die unselige Debatte über fremde Kulturkreise und deren vermeintliche genetische Dispositionen endlich einschlafen. Zeit ist es aber auch, die Facette Fachkräftemangel bei Licht zu betrachten. Dass die Lücke, die sich schon durch dem demographischen Wandel stetig vergrößert, ohne gezielte Zuwanderung geschlossen werden könnte, glaubt vor allem die Regionalpartei CSU. Das kann sie aber nur durchhalten, wenn sie das Gespräch darüber mit in Bayern ansässigen High-Tech-Konzernen wie Siemens oder Airbus konsequent meidet. Parteichef Seehofer und sein Lautsprecher Dobrindt scheinen wild entschlossen: Sie führen noch einmal die "Kinder statt Inder"-Kampagne, mit der ein Jürgen Rüttgers schon vor zehn Jahren keinen Erfolg im Wahlkampf hatte. In der bayrischen Variant werden die Kinder durch deutsche (Langzeit-)Arbeitslose ersetzt, was die Argumentation aber nicht zwingender macht. Es sind ja nicht blauäugige Multikulti-Hohepriesterinnen wie Claudia Roth, die eine gezielte Anwerbung ausländischer Spezialisten fordern, sondern stocknüchterne Wirtschaftsvertreter. 36<ET>000 Ingenieure und 65<ET>000 IT-Fachleute fehlen nach Regierungsangaben, aber eben auch Zehntausende nicht-akademische Fachkräfte. Bei den Pflegekräften etwa ist die Zahl der offenen Stellen deutlich höher als die Zahl arbeitslos gemeldeter examinierter Profis. Die raschere Anerkennung ausländischer Abschlüsse liegt also nahe, wenn unser Wirtschafts- und Sozialsystem nicht bald auf Reserve laufen soll. Selbst qualifizierte Langzeitarbeitslose, die seit mehr als einen Jahr - zum Teil deutlich länger - nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet haben, können den sofortigen Bedarf nicht decken. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass ein Viertel von ihnen gesundheitliche Einschränkungen aufweist. Und was spricht gegen eine gesteuerte Zuwanderung nach einem strikten Punktesystem, wie es Kanada und andere Staaten seit Jahrzehnten erfolgreich anwenden? Dadurch ist dort statt der Arbeitslosigkeit bloß das Wirtschaftswachstum gestiegen. Das konservative Mantra "Deutschland ist kein Einwanderungsland" trifft ja auf eine verquere Weise zu: Qualifizierte junge Deutsche - nicht nur Ärzte - suchen zunehmend ihr Glück im Ausland, während qualifizierte Ausländer entweder erst gar nicht her kommen oder von der hiesigen Bildungsbürokratie allzu oft zum Taxifahren verurteilt werden. Das will die Regierung nun ändern. Aber sie sollte die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung entlassen. Das wachsende weibliche Potenzial an Fachkräften etwa - ob nun deutscher oder ausländischer Herkunft - lässt sich nur ausschöpfen, wenn die Unternehmen familienfreundlicher werden. Das würde übrigens auch den demographischen Wandel mildern - siehe Frankreich. Das Wehklagen von Arbeitgeberpräsident Hundt über die Kosten eines moderat erweiterten Mutterschutzes wirkt da genauso altbacken wie die christsoziale Angst vor kultureller Überfremdung. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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