Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 1. Dezember 2010 das Schlichtungsergebnis zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21:
Bremen (ots)
Respekt, Heiner Geißler! von Joerg Helge Wagner Wie schafft man es, Frieden zu stiften, wo ein Kompromiss schier unmöglich ist? Heiner Geißler, der Schlichter beim umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21, hat es uns gezeigt: Indem man sehr viel Geduld und Grips darauf verwendet, am Ende niemanden als Verlierer dastehen zu lassen. Das hat der Mann geschafft und dafür gebührt ihm höchster Respekt. Geißler hat die Minimalvoraussetzung für eine Schlichtung maximal genutzt: die Gesprächsbereitschaft der Kontrahenten. Auch wenn klar war, dass er - Attac-Mitglied hin oder her - das Megaprojekt niemals völlig infrage stellen würde: Seine hartnäckige, manchmal geradezu unangenehme Befragung der Befürworter ließ bei den Gegnern niemals den Verdacht aufkommen, hier inszeniere jemand Überparteilichkeit. Doch da man einen Bahnhof nicht halb versenken kann und einem Mittelding zwischen Kopf- und Durchgangsbahnhof die unbarmherzige Logik entgegensteht, musste sich Geißler am Ende entscheiden. Sein Votum für das Projekt S21 ist aber mit erheblichen Bedingungen gespickt, und die haben die Gegner - wie das gesamte Schlichtungsverfahren - ertrotzt. Enttäuschung oder gar Wut über das Ergebnis wären ebenso unangemessen wie Triumphgeheul auf Seiten der Bahn und der Landesregierung - was ja auch gestern nicht zu vernehmen war. Geißler, der Ex-Minister, der langgediente Top-Parteifunktionär, der spätberufene Globalisierungskritiker, hat die zwei Herzen in seiner Brust synchron schlagen lassen. Mit der kühlen Rationalität des Berufspolitikers und Ex-Richters hat er abgewogen und geurteilt. Das von den Gegnern erarbeitete Alternativprojekt K 21 - ein umgebauter Kopfbahnhof - wäre zwar möglich, aber um einen zu hohen Preis: Das komplette neunjährige Planungsverfahren, das S 21 ja bereits durchlaufen hat, stünde erst noch bevor - und niemand kann garantieren, dass sich in dessen Verlauf der von den Initiatoren errechnete Kostenvorteil in Luft auflöst. Also hat der kritische Kopf Geißler beherzt an den offensichtlichen Schwächen von S 21 gefeilt, um eine größere Verträglichkeit zu erreichen. Die freiwerdenden Grundstücke werden durch ein Stiftungsmodell vor Spekulation geschützt, mehr Bürgerbeteiligung bei der oberirdischen Folgeplanung ist so auch garantiert. Unterirdisch wird vor allem die Sicherheit für die Fahrgäste verbessert. Und auch die alten Bäume - offenbar in Stuttgart wie in Bremen der mit Abstand sensibelste Aspekt jeglicher Bauplanung - werden weitestmöglich verschont. Wenn Bahn und Land sich auf Geißlers Spruch einlassen und auch die Details ernst nehmen, können sie eigentlich nichts mehr falsch machen. Der Ball liegt nun im Feld der Gegner, die das Schlichtungsverfahren ja herbeidemonstriert haben. Ihnen bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder akzeptieren sie zumindest die Tendenz des Spruchs oder sie beharren auf ihrer Maximalforderung: oben bleiben! Dann aber müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob ihre eigene Verhandlungsbereitschaft nicht bloß vorgetäuscht war. Eine Volksabstimmung ist nun - jenseits aller wohlbegründeten verfassungsrechtlichen Bedenken - absolut unkalkulierbar geworden. Der hart erarbeitete Spruch des nüchternen Schwaben Geißler ist im Ländle vermutlich eher mehrheitsfähig als die Milliarden Euro teure Vollbremsung eines auf künftige Jahrzehnte angelegten Großprojekts. Mit dem gestrigen Tag finden sich die sympathieverwöhnten Grünen plötzlich in einer ungewohnten Situation wieder: Sie müssen sich einer kritischen Öffentlichkeit erklären. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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