Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 20. September 2011 den Besuch den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül in Deutschland:
Bremen (ots)
Partnerschaft reicht nicht mehr
von Joerg Helge Wagner
Wie schön könnten die deutsch-türkischen Beziehungen sein, wenn sie ausschließlich von Abdullah Gül und Christian Wulff gestaltet würden: Es wäre fast wie Deutschland-Frankreich unter dem Duo François Mitterrand/Helmut Kohl. Vielleicht sogar noch besser, denn Gül und Wulff mögen sich nicht bloß, sie können sogar unverkrampft Klartext miteinander reden. Das hat Wulff vor elf Monaten bewiesen, als er im türkischen Parlament Gleichberechtigung für die Christen in Anatolien anmahnte - und mehr Integrationsbemühungen der bei uns lebenden Türken forderte. Niemand in Ankara war beleidigt, denn das deutsche Staatsoberhaupt genießt dort hohe Glaubwürdigkeit: Seine Bremer Rede ist ebenso präsent wie die Tatsache, dass Wulff als Regierungschef in Niedersachsen die erste türkisch-stämmige Ministerin ernannt hatte. So kann er seinem Amtskollegen Gül auch freundlich-bestimmt sagen, dass der Deutschtest für nachziehende Ehepartner nicht verhandelbar sei, man aber über erleichterte Visa-Regeln sprechen könne. Nun hat Wulff nicht die Machtfülle anderer Präsidenten - die hat Angela Merkel. Auf türkischer Seite ist Gül zwar immerhin formal Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Friedenszeiten, die politische Macht liegt jedoch auch hier bei Premier Recep Tayyip Erdogan - und der ist aus ähnlich hartem Holz wie Merkel. Die eine unterstützte noch 2004 als CDU-Chefin aktiv eine Unterschriftenkampagne der CSU gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Der andere diffamierte 2008 in seiner Kölner Rede Forderungen nach Integration als "Assimilation", die "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sei. Die eine will angeblich "ergebnisoffen" verhandeln, in Wahrheit aber maximal eine "privilegierte Partnerschaft" der Türkei mit der EU zulassen. Der andere wuchert derweil mit den Pfunden, die die Türkei international zugelegt hat. Als Erdogans religiös orientierte Partei AKP 2002 an die Macht kam, stimmte noch das Klischee vom "kranken Mann am Bosporus". Die laizistischen Kemalisten wurden ja gerade deswegen abgewählt. Heute kann die Türkei vor Kraft kaum laufen; Erdogan hat höchst erfolgreich moderaten Islam und Modernisierung versöhnt. So erfolgreich, dass er seine Türkei als Modell für Tunesien, Libyen, Ägypten anpreisen kann. Woraufhin ihn prompt konservative Deutsche des "Neo-Osmanismus" verdächtigen. Doch zum Glück gibt es in der Union ja immer noch nüchterne Geister, die strategisch weit nach vorne denken können, statt bloß schiefe historische Vergleiche zur Abwehr aktueller Herausforderungen zu missbrauchen. Der Außenpolitiker Ruprecht Polenz etwa hat erkannt, dass eine echte (!) Beitrittsperspektive der Türkei zur EU durchaus im deutschen Interesse ist. Natürlich! Wir sind wichtigster Handelspartner der Türkei, drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben bei uns, 700<ET>000 davon haben bereits einen deutschen Pass. Und wenn der türkische Sender TRT el-Türkiye bereits heute 350 Millionen Menschen auf Arabisch errereicht, sollte man das nicht als "neo-osmanische" Bedrohung begreifen, sondern intelligent nutzen, etwa durch Kooperation. Das könnte dann wirklich mal ein wirksames Mittel gegen islamistische Propaganda sein. "Außenpolitisch handlungsfähig und innenpolitisch stabil" hat sich der CDU-Abgeordnete Thomas Kossendey die Türkei vor zehn Jahren gewünscht. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen - nun muss man auch etwas daraus machen. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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