Weser-Kurier: Kommentar von Peter Gärtner zu Rot-Rot-Grün in Thüringen
Bremen (ots)
Thüringen schreibt möglicherweise Geschichte. Es ist gewiss keine revolutionäre. Der gestern vorgestellte Koalitionsvertrag enthält weder waghalsige Vorhaben noch linke Experimente, sondern wirkt recht solide - was gewiss auch dem engen finanziellen Rahmen geschuldet ist. Die angekündigten Reformen entpuppen sich bei genauerem Hinschauen eher als Reförmchen. Das gilt auch für die groß angekündigte Gebietsreform mit weniger Kreisen. Einzig der lobenswerte Versuch, Zensur und Überwachung des Internets zu verhindern und zugleich netzpolitische Modellprojekte zu fördern, könnte zukunftsweisend sein. Deshalb stellt sich die Frage, warum die Sozialdemokraten, deren Handschrift auf dem dunkelrot-rot-grünen Papier durchaus zu erkennen ist, diese Inhalte nicht mit der Union Christine Lieberknechts umsetzen wollten? Immerhin hatte der knappe Wahlausgang der SPD eine Jokerrolle zugewiesen, die bei der CDU auch zu weitreichenden Zugeständnissen geführt hätte, damit sie nicht erstmals auf der harten Oppositionsbank Platz nehmen muss. Denn natürlich ist es nicht normal, was sich im Freistaat jetzt anbahnt. Ein Blick in die Präambel reicht dafür bereits aus: Dort wird eine Selbstverständlichkeit - dass die DDR ein Unrechtsstaat war - hervorgehoben. Fast wäre das neue Dreierbündnis, und das 25 Jahre nach dem Mauerfall, schon an dieser Feststellung und den damit verbundenen Wortklaubereien zerbrochen. Mit diesem Zugeständnis der SED/PDS-Nachfolger - und mehr Ministerposten für SPD und Grüne, als ihnen rein rechnerisch zustünden - wird voraussichtlich ein Politiker der Linken zum Regierungschef Thüringens gewählt, auch wenn Bodo Ramelow ein Realo ist und aus Niedersachsen stammt. Das ist dann wirklich etwas für spätere Geschichtsbücher. Denn es geht in Erfurt nicht nur um die Schulpolitik, im Bundesrat kann die Linke künftig erstmals auch über Außen- und Sicherheitsfragen mitentscheiden. Ein Tabubruch also - ob die SPD damit einen Test, eine Provokation oder gar eine Machtoption verbindet, wird sich zeigen. Bislang hat die Partei von Regierungsbündnissen mit den Linken im Osten stets profitiert. Doch die Rolle als Juniorpartner der Linken ist neu und kaum wirklich kalkulierbar. Auch deshalb ist das Versuchslabor Thüringen alles andere als normal.
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