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Rheinische Post: Missverstandene Angela Merkel

Düsseldorf (ots)

von Sven Gösmann
An der Basis der von einer Frau dominierten Männerpartei CDU wurde
von einigen der Dominierten der nicht freundlich gemeinte Spitzname 
"Mutti" für Angela Merkel gefunden. Noch nie war er wohl so treffend 
wie heute, wenn der CDU-Bundesvorstand zu seiner zweitägigen 
Klausurtagung in Berlin zusammenkommt.
Denn "Mutti" hat es wahrlich nicht leicht mit ihrer schwarz-gelben 
Familie. Die beiden Kinder sind in der Pubertät. Pubertät bedeutet: 
Man fühlt sich nicht wohl in seinem Körper, hadert mit den 
Unzulänglichkeiten des eigenen Äußeren, ist auf Sinn-, Vorbild- und 
immer auch auf Partnersuche, begehrt in trotziger Liebe gegen die 
Eltern auf, die einem die Richtung weisen wollen. Wer im Moment der 
nervigere der beiden Bengel ist, der leibliche schwarze Sohn oder der
gelbe Stiefsohn, das behält Angela Merkel für sich. Längst wirken 
beide wie Kandidaten für die "Super-Nanny" von RTL. Doch die fällt 
zum Glück aller Beteiligten aus - schließlich hat sie schon 
vergeblich ihr Glück als SPD-Wahlhelferin versucht.
Also wird heute in Berlin alles auf "Mutti" schauen. Sie ist es 
schließlich, die die Irritationen in ihrer Partei, der Koalition, 
aber auch bei den Bürgern auslöst, wie die im NRW-Wahljahr 
alarmierenden Umfrageverluste für Schwarz-Gelb eindrucksvoll belegen.
Angela Merkel hat es zugelassen, dass die Kritik aus den eigenen 
Reihen an ihr und ihrer Nicht-Politik in den vergangenen Tagen 
kulminiert ist. Nun soll ausgerechnet sie dafür die Lösung bringen.
Ihrem liberalen Koalitionspartner geht es vor allem darum, den 
Eindruck zu vermeiden, in Berlin würde einfach nur weiter regiert wie
in der großen Koalition, allenfalls ein bisschen weniger 
sozialdemokratisch. Guido Westerwelles forscher Spruch von der 
"geistig-politischen Wende" jedenfalls ist der Versuch, Schwarz-Gelb 
doch zum Projekt zu (v)erklären, das dieses an sozialer Sicherheit 
orientierte Land zu einer Aufbruchsgesellschaft umbauen könnte - mit 
allen Unwägbarkeiten, die eine Mehrheit der Wähler regelmäßig an 
Wahlurnen wie in Umfragen ablehnt.
Schwerer wiegt, dass Westerwelle bei der Einschätzung von Angela 
Merkels Persönlichkeit immer noch dem gleichen Missverständnis 
erliegt wie der verbliebene konservative Teil der Union: Sie ist 
keine Projekt-Politikerin. Sie ist keine Strategin. Sie ist keine 
selbststrahlende Anführerin.
Angela Merkel ist eine Einzelfall-Entscheidungs-Politikerin. Wer sich
bemüht, die Summe dieser Entscheidungen zu addieren, wird 
feststellen, dass dahinter ein vages Mitte-Koordinatensystem zu 
erkennen ist. In dessen Zentrum steht der Machterhalt. Die bei "Kohls
Mädchen" oft gesuchte Ähnlichkeit mit dem Altkanzler erschöpft sich 
eben nicht im beiden eigenen zögerlichen Aussitzen, um dann im Moment
historischer Herausforderungen (Einheit, Finanzkrise) doch zupackend 
zu handeln. Zu dieser Ähnlichkeit gehört auch der ausgeprägte 
Machtinstinkt mit eingebautem Freund-Feind-Denken und wenig 
zimperlicher Ausschaltung lästiger Kritiker.
Merkels herausragendes Verdienst ist es, dass sie das Familien- und 
Gesellschaftsbild der Union und damit dieses Landes modernisiert hat.
Sie ging dabei aber wiederum nicht strategisch, sondern situativ vor,
bisweilen auch nach Sympathie für Personen, die Positionen vertreten.
So ist auch ihr Umfeld zu erklären, in dem sich nur geschmeidige 
Christdemokraten finden, die eine schwarz-gelbe Koalition ebenso 
managen wie sie das bei einer schwarz-roten taten oder bei einer 
schwarz-grünen tun würden.
Merkel, die als ostdeutsche Protestantin nicht der Ursuppe der CDU 
entstammt, fehlt so das Korrektiv im engsten Kreis. Neben den 
erwähnten Ratgebern steuert sie ihre Politik mit Hilfe 
technokratischer Experten wie Meinungsforschern. Die sagen ihr etwa, 
dass nur noch acht Prozent der Wähler Katholiken mit starker 
Wählerbindung sind und es sich mit den Vertriebenen ähnlich verhalte.
Empirie tritt also an Stelle von Empathie; und das sorgt wiederum für
die Misshelligkeiten, die die aktuelle Klausurtagung begleiten.
Die Prognose für die Klausur wie für die Koalition kann deshalb nur 
lauten: Die Machtpolitikerin Merkel wird in der CDU keine lange 
Debatte zulassen und sich lieber der nächsten Sachfrage zuwenden. 
Dieses Modell leidenschaftsloser Ernsthaftigkeit wird sie gewiss 
einige Zeit tragen. Für eine Kanzlerin und Parteivorsitzende, die im 
Gedächtnis haften bleiben will, ist es jedoch zu wenig.

Pressekontakt:

Rheinische Post
Redaktion

Telefon: (0211) 505-2304

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