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Rheinische Post: Auf dem Weg in die Goslarer Republik = Von Sven Gösmann

Düsseldorf (ots)

Die mächtigste Politikerin Deutschlands mag im Kanzleramt sitzen. Der seit Sonntag mächtigste Politiker Deutschlands aber sitzt, wenn er nicht in Berlin weilt, in einem unscheinbaren ehemaligen Bergarbeiterhäuschen in Goslar: SPD-Chef Sigmar Gabriel. Seit dem rot-grünen Wahlerfolg in Gabriels Heimatland Niedersachsen kommen die SPD-regierten Staatskanzleien gar nicht mehr mit dem Zählen der Initiativen nach, die ihr Parteichef anstößt. Ob Abschaffung des Betreuungsgelds, volle Rechte für gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder das Durchsetzen der doppelten Staatsbürgerschaft - Gabriel sieht viel Angriffsfläche, um die schwarz-gelbe Bundesregierung vor sich herzutreiben. Vor allem die vier Sitzungen des jetzt rot-grün beherrschten Bundesrates bis zur Bundestagswahl am 22. September will er als Kampagnenplattform nutzen. Der Kurs in der Länderkammer soll am 31. Januar am Vorabend der Bundesratssitzung bei der Zusammenkunft der SPD-Regierungschefs in der NRW-Landesvertretung festgelegt werden. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ist dann als Nachfolgerin des zurückgetretenen Kurt Beck zwar Gastgeberin dieser sozialdemokratischen Neben-Bundesregierung. Heimlicher Nebenkanzler ist jedoch Gabriel. Mit dem Machtwechsel im Bundesrat vollzieht sich eine personelle Machtverschiebung in der Bundespolitik. Gabriel, bei Amtsantritt als neuer SPD-Chef 2009 von seiner Partei argwöhnisch beäugt, hat das ihm eigene Unstete nahezu völlig abgelegt. Zudem hat er die Partei, in Umfragen noch magersüchtig, inhaltlich erneuert: Erst machte sie ihren Frieden mit der Agenda 2010 und dann mit den Gewerkschaften. Mit der verdeckten Brutalität eines sensiblen Mannes verabschiedete sich Gabriel auch von manchen Teilen der Agenda. Der einstige Einzelkämpfer ließ sich sogar von seiner ungeliebten Stellvertreterin Kraft helfen, indem diese ihm die leidige Rentendebatte innerhalb der SPD vom Hals schaffte - durch das alte parteitaktische Hausmittel der Vertagung, in diesem Fall auf das Jahr 2020. Inzwischen hat Gabriel auch die Pannenserie des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück verarbeitet, die ihn zeitweilig fassungslos machte. Zumal ihn der Wahlerfolg von Hannover lehrt, dass es für die bundesdeutsche Linke paradoxerweise auch ohne restlos überzeugenden Kandidaten möglich erscheint, die Wahl im Herbst zu gewinnen. Gabriel erkannte das wie häufig schneller als das sonstige politische Berlin. Als man dort noch nach Hannover starrte, brachte er schon seine Analyse unter das Volk, wo er die fehlenden Stimmen für eine rot-grüne Mehrheit herholen will: von links. Jede Stimme für die Linkspartei und Piraten sei verschenkt, wird er nicht müde zu betonen. Gabriel will aus der strukturellen Mehrheit der vier linken Parteien - die in Umfragen trotz aller Unions-Höhenflüge gemeinsam immer 50 Prozent und mehr der Stimmen auf sich vereinigen - eine reale machen, indem er die Zahl der politischen Parteien bis Herbst auf zweieinhalb und später auf zwei reduziert. Schon länger unterscheidet der SPD-Vorsitzende im Übrigen fein zwischen der ostdeutschen Regionalpartei Linke und den "Sektierern im Westen". Er verklärt die SED-Nachfolger zu einer Art spezieller ostdeutscher Sozialdemokratie mit schwieriger Vergangenheit. Sprich: Mit der Gysi-Linken ist nach der Wahl manches denkbar. Im ersten Zugriff wohl keine rot-rot-grüne Koalition, aber durchaus die Mehrheitsbeschaffung bei Steinbrücks geheimer Kanzlerwahl im Bundestag. Den Kanzlerkandidaten selbst hat man in den Debatten der vergangenen Tage weniger wahrgenommen. Die Agenda bestimmte Gabriel. Denkt man sich dessen bisherige Machtfülle weiter, so könnte er bei einer wie auch immer gearteten sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung nach dem 22. September eine Art zweiter Herbert Wehner werden. Das ist keine üble Perspektive für einen, der nach seiner Abwahl als Ministerpräsident in Niedersachsen 2003 als früh Gescheiterter galt.

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