Rheinische Post: Desaster für die Groko - aber eine Wahl für Europa Kommentar Von Michael Bröcker
Düsseldorf (ots)
Zunächst die beste Nachricht: Mehr als jeder zweite Wahlberechtigte in Deutschland ist zur Europawahl gegangen. Ein Plus von fast zehn Prozentpunkten im Vergleich zur letzten Europawahl. Die zweitbeste Nachricht: Die meisten Wähler haben eine pro-europäische Partei gewählt und sich damit für die Weiterentwicklung der EU, nicht für deren Rückabwicklung ausgesprochen. Der Rechtsruck ist ausgeblieben, die Richtungswahl entschieden. Die Zukunft des Kontinents liegt nach Ansicht einer überwältigenden Zahl von Menschen in einem Europa des Miteinander. Gut so. Das anti-europäische Lager ist mit 15 Prozent im Parlament spürbar, aber ohne Vetomacht. Allerdings sollten die Erfolge der Rechtspopulisten in den EU-Gründerstaaten Italien und Frankreich den etablierten Parteien zu denken geben. Der Frust auf die Elite ist groß. Womit wir bei CDU und SPD wären. Die Groko ist auf Bonsai-Maß geschrumpft, eine Mehrheit hat diese Regierung in Deutschland nicht. Das liegt weniger an der CSU, die dank ihres überzeugenden und reflektiert auftretenden Spitzenkandidaten Manfred Weber ihr Ergebnis ausbauen konnte. Das Urheberrecht für das historisch schlechteste Ergebnis der Union bei einer bundesweiten Wahl hat die CDU. Die Partei ist mit der neuen Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer noch nicht im Tritt, hat kaum nationales Profil entwickelt, auch wenn "AKK" gute Vorschläge zur Zukunft Europas vorgelegt hat. Doch hängen geblieben sind ihr missglückter Karnevalsauftritt und die jüngste Posse rund um ihre vermasselte Antwort auf einen CDU-kritischen Youtuber. Vor allem verschlafen die Konservativen das Zukunftsthema Klimaschutz. Dafür ist bei der CDU formal ein bisschen Platz im Wahlprogramm, aber leidenschaftliche Vorkämpfer und relevante Ideen finden sich in ihren Reihen nicht. Die selbst ernannte Klimakanzlerin Angela Merkel hat bei dem Thema an Glaubwürdigkeit verloren. Sie regiert seit 2005 und Deutschland verfehlt die Klimaziele. Die Grünen profitieren von dieser Ignoranz. Der Schutz des Planeten liegt in ihrer DNA. Der smarte Parteichef Robert Habeck verkörpert zusätzlich einen Politikstil der Nachdenklichkeit und Unvollständigkeit, das kommt an. In dem 22-Prozent-Ergebnis steckt auch ein Habeck-Effekt. Vor allem die Jugend verhilft den Grünen zum Volkspartei-Status. Bei den Unter-30-Jährigen ist die Partei Spitzenreiter, ebenso in liberalen Großstädten wie Köln und Düsseldorf. Die junge Generation hat auf beeindruckende Weise deutlich gemacht, dass sie sich bei dem Thema einmischen will, und manch treuer CDU- oder SPD-Stammwähler wurde so wohl zu Hause von den eigenen Kindern bekehrt. Öko ist "in", ein "must-have". Dagegen gilt für die SPD, was der FDP-Mann Wolfgang Kubicki einst über seine damals kriselnde Partei gesagt hat. Man sei als Marke "im Verschiss". Die SPD lockt kaum noch einen hinter dem Ofen hervor. Sie wirkt gelähmt, altbacken. Erstmals nur Platz drei bei einer bundesweiten Wahl. Bei der Landtagswahl in Bremen nach 70 Jahren abgewählt. Ein Desaster. Die Sozialismus-Thesen des Juso-Chefs, der Zickzack-Kurs der SPD in der Regierung (sonntags am Wahlstand die Regierung kritisieren, aber montags auf der Regierungsbank hocken) stößt auf Ablehnung. Als SPD-Chefin ist Andrea Nahles in der Bevölkerung so unbeliebt wie zuletzt Rudolf Scharping oder Kurt Beck. Es liegt kein Segen auf SPD-Chefs aus Rheinland-Pfalz. Für die große Koalition bleibt deshalb wohl nur noch eine Option, wenn sie wirklich weiterregieren will: Sie muss einen Neustart wagen, den Koalitionsvertrag neu verhandeln. Ein Deutschlandplan mit einer klugen Wachstumspolitik, die Energiekosten dämpft, Regulierungen und Entlastungen abbaut und massiv in digitale Infrastruktur und beste Bildung investiert, wäre eine Möglichkeit. Dazu könnte dann auch eine Grundrente in Reinform gehören. Gerecht und finanzierbar. Das wäre gute Politik. Und kein ideologisches Parteigezerre. Das würde vielleicht sogar der Wähler honorieren.
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