Rheinische Post: Was heute sozial ist
Düsseldorf (ots)
Von Sven Gösmann
Bei den Berliner Koalitionsverhandlungen ist heute der Tag der Wahrheit. Der designierte Finanzminister Peer Steinbrück will seine Vorstellungen für eine Finanzpolitik in der kommenden Legislaturperiode vorstellen. Zum ersten Mal dürften so Eckpunkte der Politik für die nächsten vier Jahre deutlich werden. Dabei geht es um mehr als Geld. Die Berliner Unterhändler müssen nicht nur das riesige Finanzproblem der öffentlichen Kassen, ob in Bund, Ländern oder Gemeinden, anpacken. Sie brauchen nicht weniger als eine Antwort auf die Herausforderungen der globalisierten Welt. Der vergangene Bundestagswahlkampf hatte noch zwei mögliche Richtungen für diese Antwort gewiesen. Die Traditionskompanie der Sozialdemokratie propagierte die gleichmäßige Verteilung des Erwirtschafteten auf alle. So etwas setzt allerdings ein regelmäßiges und üppiges Wachstum voraus. Alle Wirtschaftsforschungsinstitute prophezeien jedoch nur ein geringes Wachstum von rund einem Prozent. Dies macht den Ansatz der SPD zu einem Wunsch, nicht zu einem praktikablen Lösungsansatz. Und die Union? Die andere große gestaltende Kraft im Nachkriegsdeutschland tut sich ebenfalls schwer mit einer zeitgemäßen Antwort auf die Probleme unserer trudelnden Volkswirtschaft. Bester Beleg der Ratlosigkeit ist die mit Mühe von der Parteiführung unterdrückte Wahlanalyse, die in Wahrheit eine verkappte Programmdebatte ist. Wohin soll es gehen: Den Seehofers und Laumanns nach, denen es ähnlich wie den Sozialdemokraten um die Verteilungsgerechtigkeit geht? Nicken, wenn SPD-Chef Müntefering mit Lohnkostenzuschüssen, die wohl nur aus Steuererhöhungen zu bezahlen sind, neue Jobs schaffen will? Oder denjenigen um die künftige Kanzlerin Angela Merkel folgen, die den Begriff der sozialen Gerechtigkeit neu füllen wollen, indem sie ihn als soziale Sicherheit definieren? Als die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder zumindest die gesicherte Chance, mit Hilfe des Staates, aber auch und vor allem dank eigener Anstrengung, einen Arbeitsplatz erhalten zu können. Dies ist realistischer, als in den alten Kategorien weiterzudenken. Das wissen auch viele Deutsche. Nur ein Beleg dafür sind die vielen in letzter Zeit getroffenen betrieblichen Vereinbarungen, in denen Belegschaften und Geschäftsführungen sich auf Mehrarbeit und Gehaltsverzicht einigten, um den Fortbestand von Unternehmen und damit Arbeitsplätzen zu sichern. Die große Koalition muss auch vor diesem Hintergrund mehr als eine Kommission der beiden Volksparteien sein, die sich auf ein Haushaltsssicherungsgesetz verständigt und dabei schon auf die Neuwahlen schielt. Gefragt ist ein Politik-Entwurf, der den Menschen die Frage beantwortet, was heute noch sozial ist. Das könnte zwar bei dem einen oder anderen Heulen und Zähneklappern auslösen. Es wäre aber ehrlich.
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