Stuttgarter Nachrichten: Alfred Grosser: Deutschland ist noch stärker als Frankreich auf dem Weg in den wilden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts -Berlin glaubt immer noch, Israel nicht kritisieren zu dürfen
Stuttgart (ots)
Scharfe Kritik am gegenwärtigen Wirtschaftssystem äußert der Politikprofessor und Soziologe Alfred Grosser. Tatsächlich ist die heutige Wirtschaftsorganisation kein Produktionskapitalismus mehr, sondern ein Börsen-Kapitalismus, beklagte er in den Stuttgarter Nachrichten (Samstag): Investitionen sind weniger wichtig als die Rendite, die weitgehend vom Kurs abhängt, der wiederum mit Entlassungen anzukurbeln ist. Wenn die Arbeitgeber sogar ein Antidiskriminierungsgesetz ablehnten, um den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern, ist Deutschland noch stärker als Frankreich auf dem Weg zurück in den wilden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Richtungsentscheidungen würden kaum mehr von der Politik getroffen, sondern von Großunternehmen. Die politischen Lager wissen, dass die Macht der Regierenden begrenzt ist und dass sie heute eher Schlimmeres verhüten als Neues schaffen können.
Grosser kritisierte zudem, dass Deutschland jahrzehntelang die nahende demografische Katastrophe verdrängt habe: Statt eine Bürgergesellschaft zu haben, konkurrieren heute Interessengruppen miteinander, die sich allesamt reichlich wenig um das so genannte Gemeinwohl kümmern. Die neuen drei deutschen Ks Kinder, Krippe, Karriere sind oft nur eine Entschuldigung, um die Unbequemlichkeiten des Kinderhabens zu vermeiden.
Auf die Frage, ob Paris an der Seite Deutschland seine amerika- kritische Haltung in der Irak-Frage fortführen werde, obgleich US- Präsident Bush wieder auf die Europäer zugehe, sagte Grosser: Es geht nicht um systematische Kritik an den USA. Die hat es sogar in Frankreich kaum gegeben. Es geht um das Recht, die amerikanische Politik zu kritisieren. Das hat die Bundesregierung unter Kanzler Schröder endlich getan sie glaubt aber leider immer noch, dass sie Israel wegen ihrer NS-Geschichte nicht kritisieren darf. Der deutsch-französische Motor allerdings liege lahm, weil es kein Benzin neuer schöpferischer Vorschläge mehr gibt. Paris unterstütze Deutschlands Bemühen um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat wissend, dass Italien gekränkt wäre und die USA dagegen
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