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Stuttgarter Nachrichten: Günter Grass: Wir brauchen ein neues 68 "Köhler könnte Klar besuchen und dann Entscheidung über Begnadigung treffen"

Stuttgart (ots)

Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass
spricht sich dafür aus, dass Bundespräsident Horst Köhler den 
früheren RAF-Terroristen Christian Klar zu einem Gespräch im 
Gefängnis besucht. Köhler muss über ein Gnadengesuch des Häftlings 
entscheiden. "Der Bundespräsident ist ein mutiger Mann; er hat 
wiederholt unbequeme Entscheidungen vertreten", sagte Grass im 
Interview mit den Stuttgarter Nachrichten (Donnerstag): "Es steht mir
nicht zu, ihm zu raten, aber er könnte Christian Klar besuchen und 
aus eigener Anschauung eine Entscheidung treffen, die dann allseits 
akzeptiert werden sollte."
Grass, der sich in den sechziger, achtziger und neunziger Jahren 
politisch für die SPD engagierte, mahnt eine Erneuerung der 
Demokratie an. Der Lobbyismus, nicht der Islam, sei der größte Feind 
der Demokratie; er entmachte die Parlamente. "Umso dringender 
brauchen wir ein neues Demokratieverständnis - ein neues 68, keinen 
Abklatsch von damals natürlich, sondern eine ganz andere Wortwahl, 
andere Zielsetzung. Mit dem Ziel, dass das Parlament wieder ein 
handlungsfähiges Instrument der Bürger wird."  Der Schriftsteller 
warnte in diesem Zusammenhang, die 68er mit den RAF-Terroristen 
gleichzusetzen. "Diese Verbrecher waren eine verschwindende 
Minderheit. Der RAF-Terrorismus ist erst entstanden, als der 
Studentenprotest schon abgeklungen war." Die 68er hätten die 
Gesellschaft wohltuend verändert: "Unsere freie Lebensform verdanken 
wir unter anderem auch dieser Bewegung." Heute nennt es Grass 
gefährlich, "dass politisch vernünftige, notwendige und einsehbare 
Lösungen nicht mehr gelingen, weil unsere Parlamentarier nicht mehr 
frei in ihrem Entschluss sind. Die Lobbyisten werden immer stärker. 
Wir brauchen eine Bannmeile ums Parlament". So sei die 
Gesundheitsreform eine Missgeburt, die die Handschrift der 
Pharmaindustrie, der Ärzte- und Apothekerverbände trüge.
Grass, der im letzten Herbst harsche Kritik dafür einstecken 
musste, dass er erst in seiner 2006 erschienenen Autobiografie "Beim 
Häuten der Zwiebel" über seine Zeit in der Waffen-SS geschrieben hat,
äußerte sich auch zur umstrittenen Grabrede von Baden-Württembergs 
Ministerpräsident Oettinger auf den früheren Marinerichter Hans 
Filbinger: "Die Reaktion bestätigt meine These, dass es keinen 
Schlussstrich unter der deutschen Geschichte gibt und geben kann. 
Oettingers Rede war an die rechte Klientel und an die 
baden-württembergische CDU gerichtet, um sicher zu stellen, dass der 
Redner einer von ihnen ist: stockkonservativ." Oettinger habe die 
Wirkung falsch eingeschätzt und berufe sich darauf, dass Filbinger 
damals juristisch korrekt gehandelt habe. "Aber es ist ja eben diese 
grauenhafte Korrektheit, die nach wie vor in diesen Köpfen sitzt", so
Grass: "Das führte damals zu Schnellgerichten. Filbinger hat das 
Todesurteil gegen einen Soldaten erlassen, als die deutschen 
Einheiten längst von britischen Truppen eingeschlossen waren. Also 
gab es überhaupt keinen Grund mehr, einem höheren Befehl zu folgen." 
Der 79-Jährige lobte Kanzlerin Merkel dafür, Oettinger öffentlich 
kritisiert und zur Entschuldigung gezwungen zu haben.
Zu seinem langen literarischen Schweigen über seine SS-Zeit 1945 
sagte Grass der Zeitung: "Darüber zu schreiben, habe ich mir 
aufgespart, bis ich eine literarische Form dafür gefunden habe: Ich 
musste ich mein Misstrauen gegenüber dem autobiografischen Schreiben 
überwinden. Autobiografisches darf nicht zulassen, dem Erinnern eine 
Tendenz zu geben, Schuld zu vereinfachen, zur Lügengeschichte 
verkommen zu lassen. Ich wollte den Jungen entdecken, der ich damals 
war - eine auf Anhieb fremde Person. Verführbar und verführt. Wider 
jede Vernunft. Das sollte geschrieben werden. Ich habe meine Lektion 
kapiert." Grass habe als Jugendlicher versagt, weil er damals  
"wichtige Fragen in den entscheidenden Situationen, wie ich sie 
überschauen konnte, nicht gestellt habe: Als mein Onkel erschossen 
wurde, als Lehrer von unserer Schule verschwanden, als ein Junge im 
Arbeitsdienst verschwand, weil er immer das Gewehr fallen ließ." 
Diese Versäumnisse werfe er sich vor. "Die kurze Phase bei der 
Waffen-SS ist hingegen etwas, wofür ich nichts konnte. Dennoch, durch
das spätere Wissen über die SS-Verbrechen, das ich seinerzeit nicht 
hatte, hat sich bei mir Scham angereichert. Das hat offenbar dazu 
geführt, dass ich weitgehend darüber geschwiegen habe - aber wiederum
nicht so geschwiegen, wie ich es selbst in Erinnerung habe." So gebe 
es Radiomitschnitte und Notizen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre, 
in denen er von der Militärzeit und der SS erzählte. Seine 
Autobiografie habe die Zungen gelöst: "Ich habe noch nie so viele 
Leserbriefe bekommen von alten und jungen Menschen, die nun in ihren 
Familien über ihre NS-Zeit sprechen."

Pressekontakt:

Rückfragen bitte an:
Stuttgarter Nachrichten
Chef vom Dienst
Joachim Volk
Telefon: 0711 / 7205 - 7110
cvd@stn.zgs.de

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