All Stories
Follow
Subscribe to taz - die tageszeitung

taz - die tageszeitung

Ein Prozeß, der sein muss/Kommentar von Klaus Hillenbrand zum Gerichtsverfahren gegen eine frühere KZ-Sekretärin

Deutschland (ots)

Der Prozess gegen die 96-jährige Irmgard F. begann am Dienstag in Itzehoe mit dreiwöchiger Verspätung. Am ersten Tag der Hauptverhandlung war keine Anklage verlesen worden, weil die Angeklagte aus ihrem Pflegeheim ausgebüxt war. Die frühere Chef­sekretärin des KZ Stutthof fühlt sich nämlich unschuldig.

Aber eigentlich findet dieses Verfahren mit einer Verspätung von mindestens 60 Jahren statt. Seit den 1950er Jahren war der bundesdeutschen Justiz bekannt, dass Irmgard F. über zwei lange Jahre die Korrespondenz des KZ-Kommandanten erledigt hatte, während unmittelbar neben ihrem Büro Zehntausende Häftlinge jämmerlich verhungerten, erschossen oder vergast wurden oder an Krankheiten verstarben. Eine Korrespondenz war das, die zum Tod dieser Menschen mittelbar beitrug. Doch jahrzehntelang musste sie sich für diese mutmaßliche Tatbeteiligung nicht verantworten - so wie Tausende andere KZ-Wachmänner und Schreibstubenbedienstete auch. Denn deutsche Richter hatten sich darauf geeinigt, dass man die vorgeblich kleinen Täter laufen lassen kann. Nur bei einer unmittelbaren Tatbeteiligung machte man den Vollstreckern des Völkermords einen Prozess. Das aber waren nur wenige, denn die meisten ihrer Opfer waren tot und konnten nicht Zeugnis ablegen. Das war eine sehr bequeme Haltung, zumal die damaligen Richter und Staatsanwälte selbst nicht immer eine weiße Weste trugen.

Diese krumme Rechtsauffassung änderte sich erst, als die meisten Verantwortlichen längst verstorben waren. Und es dauerte noch einmal geschlagene vier Jahre von den ersten neuen Ermittlungen bis zum Prozessbeginn gegen Irmgard F. Jetzt, 76 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, steht sie als Greisin vor Gericht, angeklagt der Beihilfe zum Mord in mindestens 11.000 Fällen. Aber macht das heute noch einen Sinn?

Ja, eine Wiederholungsgefahr geht von der Angeklagten wohl nicht aus. Aber dennoch müssen in einem Rechtsstaat Taten wie die, die Irmgard F. vorgeworfen werden, gesühnt werden. Es steht nirgends geschrieben, dass Alter vor Strafe schützt. Aber die wenigen, inzwischen selbst uralten Überlebenden und ihre Nachkommen mussten bis heute warten, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Der Prozess kann das jahrzehntelange Versagen der Justiz nicht ungeschehen machen. Aber noch furchtbarer wäre es, wenn sich wegen dieses Versagens die letzten lebenden mutmaßlichen Täter nicht für das verantworten müssen, was sie in der Nazizeit anderen Menschen angetan haben. Es wäre ein zweites Versagen.

Pressekontakt:

taz - die tageszeitung
Susanne Knaul
Telefon: +49 30 25902 255
meinung@taz.de

Original content of: taz - die tageszeitung, transmitted by news aktuell

More stories: taz - die tageszeitung
More stories: taz - die tageszeitung
  • 13.10.2021 – 17:10

    Sprache des Hasses/Kommentar von Benno Stieber

    Deutschland (ots) - Eine Gruppe von gut 20 jungen Männern stürzt sich am Rande einer Demonstration auf einen 64-jährigen Mann, tritt und prügelt ihn so brutal, dass er einen Schädelbruch erleidet und wochenlang im Koma liegt. Er wird sein Leben lang unter Folgeschäden leiden. Einer seiner Begleiter bekommt Schläge ab, die ein Auge verletzen und er darauf fast erblindet. Ein Fall von empörender Brutalität, nah an ...

  • 23.09.2021 – 17:18

    Kommentar von Gunnar Hinck zur Größe des nächsten Bundestages: Schafft die Wahlkreise ab!

    taz die tageszeitung Berlin (ots) - Nach der Wahl wird es nicht nur eine neue Regierung geben, sondern auch einen sehr großen Bundestag. Über 800 Abgeordnete sind wahrscheinlich. Zum Vergleich: 328 Millionen US-BürgerInnen werden von 435 Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus vertreten. Der XXL-Bundestag, der er mit über 700 Abgeordneten jetzt schon ist, ist Wasser ...

  • 14.09.2021 – 16:39

    Die EU-Perspektive muss bleiben/Kommentar von Jana Lapper zu Merkels Balkanreise

    Deutschland (ots) - Wenn Angela Merkel nach 16 Jahren ihr Amt abgibt, verliert der Westbalkan eine seiner wichtigsten Unterstützerinnen - vor allem, wenn es um den EU-Beitritt geht, den Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina anstreben. Dafür hat Merkel 2014 den "Berliner Prozess" ins Leben gerufen. Kein Wunder also, dass ...