Stuttgarter Zeitung: Wahnsinn gegen Wahnsinn
Leitartikel zu Ägypten
Stuttgart (ots)
Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Ägypten das Rad der Geschichte einfach zurückgedreht und wieder den Zustand erreicht, in dem es sich in den letzten Tagen des Mubarak-Regimes befunden hat. Doch so ist es nicht. Die Gräben, die schon immer in der Gesellschaft vorhanden waren, sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren erst offensichtlicher und dann tiefer geworden. Jeder auf dem politischen Parkett des Landes hat seinen Anteil daran. Es gibt in Ägypten kein Gut und kein Böse. Gegenüber stehen sich Wahnsinn und noch viel größerer Wahnsinn.
Es gibt auf keiner Seite auch nur den Hauch von Verständnis dafür, dass ein funktionierendes Gemeinwesen Kompromisse benötigt. Diese totale Unfähigkeit zum Kompromiss hat in Syrien in den letzten zwei Jahren mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet. Die Angst, Ägypten könne sich in ähnlichen Bahnen bewegen, ist vielerorts greifbar. Man kann zwar nicht ausschließen, dass die radikalen Kräfte auf Seiten der Muslimbrüder nun den bewaffneten Kampf gegen das Militär aufnehmen. Dass es in ähnlicher Weise geschieht wie in Syrien, ist dennoch unwahrscheinlich.
Sehr viel näher liegt die Möglichkeit, dass die von der Macht Vertriebenen letztlich wieder dort hingehen müssen, wo sie schon zuvor jahrelang gewesen sind: in den Untergrund. An potenziellen Märtyrern, die von dort aus bereit sind, gegen die Staatsspitze zu kämpfen, wird es nach den Ereignissen der vergangenen Tage bestimmt nicht mangeln. Es steht zu befürchten, dass Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird, dass sich eine Spirale der Vergeltung in Gang setzt, die es in absehbarer Zeit unmöglich macht, sich dem Kern des Problems zu nähern.
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