Verschickungskinder: DAK-Gesundheit legt Studie vor und bittet Betroffene um Entschuldigung
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Als erste Krankenkasse hat die DAK-Gesundheit die Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Aus den Ergebnissen der unabhängigen Forschung ist eine Publikation entstanden, die am Mittwoch vorgestellt wurde. Vorstandschef Andreas Storm bat alle, die in diesen Kuren leidvolle Erfahrungen gemacht haben, im Namen der DAK-Gesundheit um Entschuldigung. Baden-Württembergs Sozial- und Gesundheitsminister Manne Lucha, Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), würdigte die Aufarbeitung als wichtiges Signal, dem weitere Beispiele folgen sollten.
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Ihr Presseteam der DAK-Gesundheit
Verschickungskinder: DAK-Gesundheit legt Studie vor und bittet Betroffene um Entschuldigung
- Unabhängige Untersuchung weist Strukturen nach, die Gewalt in Kinderkurheimen begünstigt haben
- GMK-Chef Lucha: „Diesem Beispiel sollten viele weitere Akteure folgen, damit wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen.“
- Betroffeneninitiative der Verschickungskinder fordert Politik und Institutionen zu weiterer Aufarbeitung auf
Als erste Krankenkasse hat die DAK-Gesundheit die Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Aus den Ergebnissen der unabhängigen Forschung ist eine Publikation entstanden, die Vorstandschef Andreas Storm am Mittwoch in Berlin vorgestellt hat: „Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Storm bat alle, die in diesen Kuren leidvolle Erfahrungen gemacht haben, im Namen der DAK-Gesundheit um Entschuldigung. Baden-Württembergs Sozial- und Gesundheitsminister Manne Lucha, Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), würdigte die Aufarbeitung als wichtiges Signal, dem weitere Beispiele folgen sollten – eine Einschätzung, die Prof. Dr. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder teilt. Sie fordert von der Bundesregierung, den Ländern und den damaligen Anbietern der Kuren Aufarbeitung und eine Anerkennung des Leids. Dafür sei das Buch des Historikers Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl zu den DAK-Kinderkuren „ein vielversprechender Anfang“.
Als „Verschickungskinder“ erlebten Kinder und Jugendliche von den 1950er bis in die 1990er Jahre Aufenthalte in Kinderkurheimen und -kliniken – für die Dauer mehrerer Wochen, in den ersten Jahrzehnten ohne Kontakt zu ihren Eltern. Bundesweit gab es rund zehn Millionen Verschickungskinder, darunter waren bis zu 450.000 bei der DAK versichert. Die Kasse unterhielt drei eigene Kinderkurheime: das Haus Quickborn auf Sylt, das Haus Schuppenhörnle im Schwarzwald und das Haus Hamburg in Bad Sassendorf. Darüber hinaus arbeitete die DAK mit insgesamt 65 Vertragsheimen zusammen.
Viele Kinder litten während des Aufenthalts unter Einsamkeit, Heimweh, Verlustängsten und strengen Erziehungsmethoden. Des Öfteren wird von körperlicher Gewalt und Demütigungen berichtet, vereinzelt auch von sexuellen Übergriffen. Vorstand und Verwaltungsrat der DAK-Gesundheit haben sich im November 2020 in einer gemeinsamen Erklärung als erste Krankenkasse Deutschlands zur Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse verpflichtet.
Die Kasse beauftragte den Bielefelder Historiker Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, eine fundierte und unabhängige Studie zu erstellen, in der die Geschichte der Verschickungskinder erstmals umfassend aufgearbeitet wird. Schmuhl forscht zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und setzt neben der Auswertung historischer Quellen auch auf die Methode der „Oral History“: Die Geschichte soll aus den Beschreibungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen rekonstruieren werden, in diesem Fall aus Gesprächen sowohl mit ehemaligen Verschickungskindern als auch mit Menschen, die in dieser Zeit im Dienst der DAK standen.
„Das Ineinandergreifen von strukturellen Faktoren, den pädagogischen Vorstellungen der Erzieherinnen und dem Kinderkurkonzept schuf den Nährboden für die Entstehung einer Subkultur der Gewalt,“ so Studienautor Schmuhl. Die Erfahrungen der „Verschickungskinder“ seien mit denen vergleichbar, die aus anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und Behindertenhilfe aus dieser Zeit bekannt seien. „Es handelte sich eindeutig nicht um Einzelfälle“, betont Schmuhl. „Auf der anderen Seite berichten manche Betroffene, dass sie selbst keine Gewalt erlitten, wohl aber Gewaltanwendungen gegen andere miterlebt haben. Wieder andere haben keine negativen Erinnerungen an die Kur.“
Der DAK-Vorstandsvorsitzende Andreas Storm wandte sich in Berlin bei der Vorstellung der Studie direkt an die ehemaligen Verschickungskinder: „Wir beleuchten hier eine dunkle Seite in der fast 250-jährigen Geschichte unserer Kasse. Die dokumentierten Missstände in Kinderkurheimen sind mit unseren Werten in keiner Weise vereinbar. Wir verstehen es als unsere Aufgabe und Verpflichtung, das Leid der Betroffenen anzuerkennen, die Missstände historisch aufzuarbeiten, den Dialog zu suchen und unserer Verantwortung gerecht zu werden. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, alle, die in den Kinderkuren Leid erfahren haben, im Namen der DAK-Gesundheit von ganzem Herzen um Entschuldigung zu bitten.“
Schmuhl stützte seine Forschung neben dem Studium von Aktenbeständen der DAK auf Gespräche mit Betroffenen und Erkenntnisse, die vom nexus Institut in Zusammenarbeit mit der Initiative Verschickungskinder und deren Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickungen e. V. aufgearbeitet wurden. „Wir Betroffenen wollen bei der Aufarbeitung der Geschehnisse nicht Objekt der Forschung sein, sondern aktiv mitwirken“, sagt Prof. Dr. Christiane Dienel, Geschäftsführerin des nexus Instituts und selbst ehemaliges Verschickungskind.
„Hunderte ehemaliger Verschickungskinder sind bereits in Landes- und Heimortgruppen aktiv, forschen in den Akten und setzen sich mit den Missständen der Kinderkuren auseinander. Tausende haben auf der Webseite der Initiative und im Rahmen unserer großen Online-Befragung ausführlich Zeugnis abgelegt“, berichtet Dienel. „Die Initiative Verschickungskinder erwartet von der Bundesregierung, den Ländern und den Trägern die Anerkennung des Leids und die Aufarbeitung der Geschehnisse. Das Buch von Hans-Walter Schmuhl ist hier ein vielversprechender Anfang."
Der baden-württembergische Minister für Soziales, Gesundheit und Integration Manne Lucha, derzeit amtierender Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder, betont die Bedeutung dieser ersten umfassenden Erforschung zum Thema „Verschickungskinder“: „Es ist wichtig, dass wir den Menschen zuhören, die Schlimmes erlebt haben, und dafür sorgen, dass ihr Leid gehört, gesehen, benannt und öffentlich anerkannt wird. Gerade weil es unsere gemeinsame Pflicht ist zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt, gilt es das schreckliche Erlebte zu sammeln, aufzuarbeiten und die strukturellen Defizite zu erkennen. Baden-Württemberg geht hier als Land voran, die DAK-Gesundheit als Träger. Diesem Beispiel sollten viele weitere Akteure folgen, damit wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen.“ In Luchas Ministerium kommt seit 2020 ein Runder Tisch Verschickungskinder zusammen – in Baden-Württemberg gab es zahlreiche Kurheime, auch eines der DAK.
Minister Lucha dankt Professor Schmuhl für seine Arbeit und lobt den offenen Austausch, den die DAK-Gesundheit pflege. Vorstandschef Storm hatte sich im Vorfeld einen Tag lang mit ehemaligen Verschickungskindern getroffen und über ihre Erfahrungen ausgetauscht. Seit Ende 2020 haben sich insgesamt rund hundert Betroffene bei der DAK-Gesundheit gemeldet. „Viele Menschen spüren bis heute gesundheitliche, vor allem seelische Beeinträchtigungen. Dass Andreas Storm im Namen der DAK-Gesundheit um Entschuldigung bittet und weitere Betroffene zum Dialog aufruft, ist ein wichtiges Symbol“, sagt Lucha.
In der 300-seitigen Studie wird das Leid der Verschickungskinder ausführlich beschrieben. Grundlage sind zahlreiche Tiefeninterviews. Aus diesen fasst Schmuhl unter anderem zusammen: „Aus den Interviews ergibt sich ein breites Spektrum von Gewaltformen. Nachweisbar sind die rigorose Abschottung der Kurkinder von der Außenwelt, eine ständige Kontrolle, die Unterwerfung unter rigide Tagesstrukturen, die Wegnahme persönlicher Gegenstände, das Vorenthalten von Rückzugsräumen, eine oft unpersönliche Behandlung, ein strenger, mitunter militärisch anmutender Kommandoton, verbale Herabsetzungen, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt, von Ohrfeigen über das Einsperren in einem Besenschrank oder das gewaltsame Eintrichtern von Erbrochenem bis hin zu massiven sexuellen Übergriffen. All dies verursachte tiefe Verletzungen des Selbst, die mit sehr starken Emotionen, insbesondere mit überwältigenden Schamgefühlen verbunden waren und die auch nach der Kur lange, in manchen Fällen bis heute nachwirken. Diese Nachwirkungen reichen von heftigen Speiseabneigungen und Emetophobie über soziale Ängste bis hin zu tiefgreifenden Bindungsstörungen. Besonders stark betroffen, so die in der vorliegenden Studie vertretene These, waren Kinder, die keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten – hier wurden schon bestehende Beziehungsmuster verfestigt und verstetigt.“
Betroffene können sich per E-Mail an die DAK-Gesundheit wenden ( verschickungskinder@dak.de). Weitere Informationen bietet die Website der Betroffeneninitiative: www.verschickungsheime.de.
Angaben zur Publikation: Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung?
Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3-86218-163-6, 28 Euro.
DAK-Gesundheit Pressestelle Telefon: 040-2364 855 9411 E-Mail: presse@dak.de