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Berliner Morgenpost: Nach dem Wahlabend wird neu gemischt - Kommentar

Berlin (ots)

Zu den wenigen überparteilich akzeptierten
Glaubenssätzen des deutschen Wahlkämpfers gehört die Lagertheorie. Es
herrscht die Annahme, dass das Land ziemlich genau in der Mitte 
geteilt sei zwischen einer 
bürgerlich-konservativ-wirtschaftsliberalen und einer 
sozial-ökologisch-umverteilungsfreudigen Hälfte.
Die von CDU-Altmeister Heiner Geißler geprägte Lagertheorie hat 
selbst die deutsche Einheit überdauert, jedenfalls bei 
Bundestagswahlen. Nach der Kohl-Ära gingen alle Kanzler-Wahlen 
relativ knapp aus. Entscheidend war fast immer die Kombination aus 
Mobilisierung der eigenen Klientel sowie einer vergleichsweise 
geringen Zahl von Wechselwählern. Auch das Auftauchen der Linkspartei
änderte nichts. Das linke Wählerpotenzial verteilte sich nun zwar auf
drei Parteien, blieb aber im vertrauten Lager.
Es ist nur folgerichtig, dass Grüne wie FDP ihren Wählern versichern,
eine Dreierkoalition werde es nach der Bundestagswahl am 27. 
September nicht geben. Eine Ampel wollen die Liberalen nicht, Jamaika
schließen die Grünen aus. Für die Öko-Partei bedeutete allein der 
Gedanke an ein Bündnis mit Schwarz-Gelb einen ebenso großen Tabubruch
wie das Signal der FDP, man könne sich eine Liaison mit Rot-Grün 
vorstellen. Teile der jeweiligen Kernwählerschaft wären vom 
Lagerwechsel derart irritiert, dass sie womöglich zu den 
Volksparteien überlaufen würden. Die Grenzen der politischen Lager 
verlaufen nicht mehr entlang zweier zum Verwechseln ähnlicher 
Volksparteien, sondern zwischen ihren kleineren Satelliten. Ob die 
Koalitionsabsagen allerdings den Wahlabend überdauern, ist fraglich. 
Was ist, wenn die traditionellen Zweibünde Union/FDP und SPD/Grün 
keine Mehrheit erringen? Kommt es dann automatisch zu einer 
Fortsetzung der großen Koalition?
Nicht unbedingt. Warum sollte die SPD - mutmaßlich als Juniorpartner 
- die Kanzlerin Angela Merkel erneut wählen, wenn es rein rechnerisch
zwei Alternativen gäbe? Mit Grünen und FDP oder aber mit Grünen und 
Linken könnte die SPD womöglich selbst das Kanzleramt erobern. 
Westerwelles Liberale, seit elf Jahren in der Opposition, stünden vor
der heiklen Frage, ob es nicht das kleinere Übel ist, mit Steinmeier 
und Trittin zu regieren, als weitere vier Jahre im Wartestand zu 
schmoren und das Land den Linken auszuliefern. Kanzlerin Merkel 
wiederum würde alles daransetzen, die Grünen zu umwerben, wenn es mit
Westerwelle allein nicht reicht.
Unklar ist bei beiden, wie die Parteibasis reagiert, auch wenn die 
Anführer mit staatsbürgerlicher Pflicht argumentieren, man wolle 
Schlimmeres verhindern. Der Entwicklung des Landes täte ein 
politischer Tabubruch sicherlich gut.
Bleiben die Parteien indessen bei ihren rigorosen Absagen, dann 
drohen im Bund hessische Verhältnisse. Eine Kanzlerin ohne Mehrheit 
und viele Minderheiten ohne Gemeinsamkeit würden sich mustergültig 
blockieren. Ein Horrorszenario? Nicht unbedingt. Den Hessen hat ein 
Jahr ohne viel Regieren auch nicht geschadet.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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