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Berliner Morgenpost: Im Trippelschritt durchs Schildkrötenland - Leitartikel

Berlin (ots)

Deutschland ist eine Schildkröte. Unterm
Schutzpanzer liegt ein sensibles Inneres, das Veränderungen nicht 
besonders schätzt. Schwerfällig bewegt sich Schildkröten-Deutschland 
voran, mit kleinen Schritten, ohne dass eine Richtung zu erkennen 
wäre. Sprünge macht das Tier nur, wenn Panik aufkommt oder die Erde 
bebt.
"Kleine Schritte", so lautete das Motto der ersten Regierung Merkel 
2005. Die neue Regierung schildkrötet einfach weiter. Langsamkeit ist
ein Kontinuum deutscher Politik, stets begleitet vom Gemaule darüber.
"Fehlstart" bemängelt derzeit der "Spiegel", der 1998 nach der Wahl 
titelte: "Alles wird anders - aber wird es auch besser?", 2002 die 
"Blockierte Republik" kritisierte und 2005 besorgt weissagte, dass 
die Kanzlerin ohnehin nichts zu sagen habe. Die Diagnose, alles gehe 
den Bach runter, bei Rot-Grün ebenso wie bei Schwarz-Rot oder 
Schwarz-Gelb, hat etwas unglaublich Beruhigendes. Denn dann bleibt 
alles noch ein Weilchen so wie immer.
Faszinierend, mit welch rührender Naivität sich manche Eliten immer 
wieder am Mythos vom großen Wurf berauschen. Steuererklärung auf 
Bierdeckeln, Pisa-festes Bildungssystem, Bürgergeld - alles prima, 
aber im Schildkrötenland illusorisch. Politik balanciert hier auf dem
Grat zwischen Bürgerzorn und medial gestützter Hysterie, zwischen 
ökonomischen Zwängen und Parteilogik. Hektische Bewegungen bedeuten 
sicheren Absturz.
Angela Merkel hätte die Wahl 2005 fast vergeigt, weil ihr 
Finanzexperte Paul Kirchhof ein neues, einfaches Steuersystem 
ankündigte. Gerhard Schröder wurde abgewählt, weil er Hartz 
durchsetzte. Helmut Kohl dagegen blieb auch deswegen 16 Jahre im Amt,
weil er Veränderungen vermied und sogar 1990 die Chance zur Reform 
der Sozialsysteme ausließ. Dabei öffnete die Einheit eines jener 
seltenen Möglichkeitsfenster, in denen das Land bereit ist, größere 
Veränderungen mitzumachen.
Bedeutende Reformen entstehen fast nie im Alltag, sondern immer in 
den raren Wochen von Angst oder Aufregung, wenn Emotionen stärker 
sind als zementierte Abläufe. Die Hartz-Gesetze waren nur machbar, 
als die Bundesanstalt für Arbeit mitten in einer Haushaltskrise in 
einen wüsten Skandal um falsche Zahlen verwickelt war. Schilys 
"Otto-Kataloge", bedenklich weitreichende Sicherheitsgesetze, waren 
wie der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan nur in der Folge von "9/11"
zu realisieren.
In den Wochen der Bankenkrise stand das Reformfenster ebenfalls weit 
offen. Doch Merkel/Steinbrück haben größere Korrekturen nicht einmal 
in Betracht gezogen. In der historischen Rückschau werden Kohls 
Zaudern 1990 und Merkels Trippelei Ende 2008 wohl als politische 
Unterlassungssünden ähnlicher Güte gewertet. Beide hätten Sprünge 
machen können, beließen es aber beim Schildkrötengang. Schröder 
dagegen sprang, um den Preis des Untergangs allerdings.
Paradox, aber wahr: Keine Krise ist derzeit groß genug, um 
Schwarz-Gelb zu Reformpolitik zu bewegen. Wie immer marschiert die 
Schildkröte vorerst langsam weiter.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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