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Berliner Morgenpost: Die Kanzlerin verzichtet auf Grausamkeiten - Kommentar

Berlin (ots)

Zumindest ökologisch gesehen war der Auftritt von
Angela Merkel zum Start der neuen Legislaturperiode bemerkenswert. 
Denn selten zuvor war eine Regierungserklärung aus so viel 
Recyclingmaterial zusammengestoppelt. Der wohlklingende 
Fünf-Punkte-Plan birgt Altbekanntes: Krisenreaktion, Bürger mit Staat
versöhnen, Demografie, Umwelt, Verhältnis von Freiheit und 
Sicherheit. Mit diesem Plan hätte jeder Kanzler seit 1949 antreten 
können. Auch das Ankündigen einer "schonungslosen Analyse" hat man 
schon mal gehört: Ob Bildung, Gesundheit oder Arbeitsmarkt - seit 
Jahrzehnten wird schonungslos analysiert. Die Deutschen sind 
Weltmeister im Beschreiben von Problemen; nur mit dem Lösen dauert es
ziemlich lange. Nach Wahlsieg, Wiedervereidigung und Einheitsjubiläum
hat die Kanzlerin das Land in wenigen Stunden wieder auf den kalten 
Boden des Alltags zurückgeholt.
Kaum eine Regierung seit 1990 habe vor derartigen Herausforderungen 
gestanden wie diese, hat Angela Merkel festgestellt. Das mag sein, 
ist aber auch nicht neu. Die letzte schwarz-gelbe Regierung, die vor 
27 Jahren ihre Arbeit aufnahm, hatte es nicht leichter. Die 
Wirtschaft erlebte damals die längste Krise seit dem Krieg, die 
Arbeitslosigkeit lag, wie heute, über sieben Prozent, die Inflation 
bei 5,2, das Bruttosozialprodukt bei minus 1,1 Prozent. Kanzler Kohl,
Finanzminister Stoltenberg und Wirtschaftsminister Lambsdorff 
handelten seinerzeit allerdings weitaus entschlossener, um den 
Haushalt zu sanieren: Arbeitslosen- und Rentenbeiträge rauf, Kinder- 
und Wohngeld gesenkt, Renten und Sozialhilfeerhöhung gestoppt, BAföG 
auf Darlehensbasis umgestellt. Alles nicht schön - aber vor allem: 
wirkungsvoll. Über geordnete Finanzen zu einem geordneten 
Staatswesen, lautete die Parole. Bereits ein Jahr später hatten sich 
die Zahlen gebessert.
Kanzlerin Merkel dagegen hat übers Sparen kaum Worte verloren, 
stattdessen die ewige Hoffnungskarte Wachstum gespielt. Wolkig blieb 
die Chefin dagegen bei Börsenumsatzsteuer und wirksamen Mitteln gegen
die Kreditklemme für den Mittelstand. Vor vier Jahren wurden noch 
kleine Schritte als Rezept ausgegeben, diesmal regiert der 
Stillstand: Nur keine Unruhe verursachen, irgendwie in die 
Weihnachtspause gleiten und auf das neue Jahr hoffen. Es lebe die 
Unauffälligkeit, denn die nächste Wahl wartet schon.
Gilt eine Regierungserklärung normalerweise fürs ganze Land, war die 
gestrige Version eine Spezialausgabe für Nordrhein-Westfalen. Im Mai 
bereits wird im größten Bundesland abgestimmt. Und die Geschichte der
Republik zeigt, dass die Bürger die Kräfte in Bund und Land gern 
austarieren. Sollte sich Gabriels SPD rasch in der Opposition 
einfinden, und nichts spricht dagegen, dann könnten Sozialdemokraten,
Linke und Grüne im Reiche Rüttgers eine erneute schwarz-gelbe 
Mehrheit verhindern. Also verzichtet die Kanzlerin selbst auf die 
allerkleinsten Grausamkeiten. Im Sommer 2010 wird sie womöglich eine 
weitere Regierungserklärung abgeben - dann hoffentlich die richtige.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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