Berliner Morgenpost: Die moralische Fallhöhe ist ein Spiegel der Gesellschaft - Leitartikel
Berlin (ots)
Nein, natürlich hängt nicht immer alles mit allem zusammen. Vor allem in diesem Falle nicht. Die Missbrauchsverbrechen in katholischen Schulen und Heimen; das jahrelange, in sich verkrümmte Schweigen der Kirche; die pomadig-verspäteten Entschuldigungen der Bischöfe; und nun die evangelische Kirchenfürstin, die mit Alkohol am Steuer über eine rote Ampel rauscht. Alles sehr unterschiedlich, alles sehr ungeeignet für Pauschalurteile. Es braucht nicht betont zu werden: Canisius ist Lichtjahre von Käßmann entfernt! Und dennoch gibt es Sätze, morgens von Kollegen im Fahrstuhl, die noch einigermaßen unverkrampft auf den Punkt bringen, was viele in diesen Tagen denken: "Die Kirchen haben im Moment wirklich keinen guten Lauf." Wohl wahr! Die Kirchen, institutionalisierte Träger des Glaubens und seiner Werteordnung, sorgen für skandalöse Schlagzeilen. Und wer das übertrieben findet, der täusche sich nicht: Es geht nicht nur um medial angespitzte Erregung einer skandalsüchtigen Masse. Wer das behauptet, der übersieht: Der existenziell hohe Anspruch der Kirchen, die wichtigste moralische Institution der Gesellschaft zu sein - mithin die einzige mit direkter Verbindung nach ganz oben -, bestimmt selbst die Fallhöhe der öffentlichen Empörung. Und was das Problem noch verschärft: In der Tat war dieser Anspruch vielleicht noch nie so wichtig. Sind nicht alle anderen Denkmäler des Hehren und Guten, der normativen Identifikation unserer Gesellschaft in den Augen der meisten längst verfallen? Politiker, die die Hand aufhalten; Top-Manager, die Millionen Steuergelder hinterziehen; Banker, die die gesamte Wirtschaft auf Talfahrt schicken? Und nun auch die Kirche? Ihr, so glauben viele, könne man seine Seele anvertrauen - oder zumindest die Erziehung seiner Kinder. Auf sie sollen wir hören bei Grundfragen, wie der nach Krieg und Frieden - erst kürzlich aufgeworfen von Bischöfin Käßmann selbst. Nun ist eben diese Margot Käßmann also betrunken über eine rote Ampel gefahren. Ein Urteil ist schnell gefällt: Verkehrssünderin, mindestens. Doch bei all dem sollten wir zwei Dinge nicht vergessen. Das Erste gehört zur christlichen Trivialrhethorik und lautet: Irren ist menschlich und Vergeben göttlich. Die Floskel ist abgedroschen, entfaltet ihre übrigens sehr christliche Radikalität allerdings, sobald man nicht nur an Frau Käßmann denkt, sondern auch an die anderen kirchlichen Täter, über die in diesen Tagen geschrieben wird. Das Zweite ist vielleicht noch wichtiger und enthält eine Chance: Die berechtigte Empörung über die Kirchen ist auch das Spiegelbild einer immensen Erwartungshaltung. Und damit vielleicht sogar der Bereitschaft, sich einem Wertesystem und seinen Vertretern auch wieder anzuschließen - solange sie glaubwürdig sind. Hier sollten die Kirchen mit aller Kraft ansetzen - noch stärker, als sie es in vielen Bereichen bereits erfolgreich tun. Denn all das, was sie jeden Tag für viele Menschen leisten, ist Beweis genug, dass sie diese Kraft hätte.
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