Berliner Morgenpost: Afghanistans Realitäten sind nicht zu leugnen - Leitartikel
Berlin (ots)
Die Realität ist nicht länger zu leugnen. Bestürzung und Trauer um immer mehr tote deutsche Soldaten in Afghanistan dulden allen semantischen Verharmlosungsversuchen zum Trotz keine Zweifel mehr, in welchen Einsatz die Bundeswehr geschickt worden ist: in einen kriegerischen. Das haben auch alle Bundestagsabgeordneten einschließlich der 113 Sozialdemokraten samt deren Parteivorsitzendem Sigmar Gabriel gewusst, die im Februar für die Verlängerung des Afghanistan-Mandats gestimmt haben. Der sieht wegen der kriegerischen Lage am Hindukusch ausdrücklich Kampfeinsätze, auch offensive, vor. Mit allen Risiken für Leib und Leben der Soldaten. Wer von den "Ja-Sagern" die Realitäten vor Ort jetzt ebenso verdrängt wie den erst vor zwei Monaten erneuerten Auftrag, mit dem die Soldaten in den Kampf gegen die Taliban geschickt werden, setzt sich dem Verdacht der Heuchelei und des politischen Opportunismus aus. Was die Soldaten - wenn sie denn schon an die Front geschickt werden - brauchen, sind moralische Rückendeckung und Solidarität nicht allein in der Stunde von Not und Tod. Wie eine Selbstverständlichkeit gehört dazu die bestmögliche Ausrüstung. Warum mussten so viele von ihnen sterben, ehe sich ein Verteidigungsminister dazu durchrang, die Truppe mit schwereren Waffen auszurüsten? Endlich auch mit der Panzerhaubitze 2000 als weitreichender Präzisionswaffe? Aber noch immer kann der ersehnte Kampfhubschrauber Tiger nicht geliefert werden, weil die Rüstungsbürokratie im ministeriellen Wasserkopf bislang außerstande ist, den Tauglichkeitsstempel auf das Rüstungsprojekt zu drücken. Wie realitätsresistent sich die Bürokaten selbst gegenüber den menschlichen Schicksalen zeigen, offenbart der Umgang mit vielen verletzten und traumatisierten Soldaten. Dass diese Opfer des Kriegseinsatzes oft jahrelang und häufig vergeblich um die Anerkennung ihrer Wehrdienstbeschädigung kämpfen müssen, ist skandalös. Die hehren und mitfühlenden Reden etwa des Bundesverteidigungsministers oder der Bundeskanzlerin kommen in diesem Zusammenhang - auch wenn auf ganz andere Weise - ebenfalls einer Realitätsverweigerung gleich. Ein verantwortlicher Minister sollte schon wissen, wie seine Soldaten medizinisch und posttraumatisch behandelt oder später mit Dauerbehinderungen in der Bundeswehr weiterbeschäftigt werden. Das darf nicht Beamten überlassen bleiben, die weiter in den Strukturen vergangener Kalter-Kriegs-Zeiten arbeiten. Auch dieser vom Wehrbeauftragten Reinhold Robbe leider erst am Ende seiner Dienstzeit so markant öffentlich gemachte schier unglaubliche Umgang mit leidenden Soldaten unterstreicht, wie dringlich die von Karl-Theodor zu Guttenberg eingesetzte Expertenkommission ist. Sie soll Vorschläge zur Umorganisation auch der Ministerialbürokratie erarbeiten, um diese endlich einer Armee im Einsatz anzupassen. Dass Guttenberg dabei zur Eile drängt, mag von schlechtem Gewissen zeugen, lässt aber hoffen. In acht Monaten will er Ergebnisse sehen.
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