BERLINER MORGENPOST: Konkrete Probleme, abstrakter Streit - über die Realitätsverweigerung in der Zuwanderungsdebatte
Berlin (ots)
Wir waren schon weiter. Dass Deutschland jetzt darüber streitet, ob der Islam zu Deutschland gehört oder ob die Zuwanderung von Menschen aus dem "muslimischen Kulturkreis" zu begrenzen sei, offenbart Realitätsverweigerung. Es gibt Hunderttausende muslimische Deutsche, die zu uns gehören. Gleichzeitig beobachten wir seit einigen Jahren den Wegzug qualifizierter Türken aus Deutschland. Die Zahl der Menschen mit ausländischem Pass sinkt. Hier das Gespenst einer muslimischen Überfremdung durch Zuzug an die Wand zu malen, wie es Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer tut, ist absurd. Nicht einmal Thilo Sarrazin verlangt eine so pauschale Abschottung gegen Türken oder Araber, wenn er die unbestreitbaren Integrationsprobleme eines Teils der Migranten beschreibt. Hochqualifizierte Leute sind dem leidenschaftlichen Provokateurdurchaus willkommen in Deutschland. Sarrazin verlangt ebenso wie der Integrationsexperte und Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky ein System, dass Zuwanderung nach deutschen Interessen regelt. Das sagt auch Seehofer. Aber man kann nicht ernsthaft eine rationale Auswahl von Einwanderern fordern und gleichzeitig bestimmte Herkunftsstaaten pauschal ausschließen. Weder ist jeder Araber ungebildet noch ist jeder Türke Moslem. Bei einer Umfrage gab fast jeder zweite Berliner mit islamischem Hintergrund an, nicht religiös zu sein. Während wir seit zehn Jahren über das "Einwanderungsland" Bundesrepublik zanken, sind wir ein Auswanderungsland geworden. Die Frage drängt, was die versammelte Politik eigentlich unternommen hat, um endlich ein modernes Zuwanderungsrecht zu schaffen. Wo bleibt das Punktesystem, das es qualifizierten Ausländern erlaubt, sich hier niederzulassen? Wer streitet darüber, ob es Software-Ingenieure sein sollen oder Handwerker oder Krankenschwestern, die hierzulande den Fachkräftemangel bekämpfen dürfen? Wer arbeitet daran, die Berufsabschlüsse und Hochschuldiplome systematisch zu überprüfen und zu ermitteln, welche direkt anerkannt werden können und wo weitere Qualifikationen notwendig sind? So lange in Berlin gesuchte Krankenpfleger zum Beispiel aus Südafrika jeden Monat nach London fliegen müssen, um dort Kranke zu versorgen, weil sie in Deutschland nicht arbeiten dürfen, gibt es genug zu verbessern. Und wer glaubt, dass der Familiennachzug so leicht sei, möge bei der türkischen Friseurin nachfragen, die seit Jahren ihren Mann nicht nachholen darf, weil ihr Verdienst nicht ausreicht, um für zwei das Hartz-IV-Niveau zu erreichen. Wir diskutieren nicht konkret, wer ins Land kommen darf oder soll, wie wir den Begriff des "Integrationsverweigerers" definieren und was gegen solche Leute unternommen werden soll. Stattdessen beschränken wir uns auf abstrakte Bekenntnisse. Das ist das Drama der deutschen Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
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