BERLINER MORGENPOST: Kein demokratisches Lehrstück in Stuttgart Jochim Stoltenberg zum Schlichtungsverfahren und Stresstest des neuen Bahnhofs
Berlin (ots)
Das hat es in Deutschland noch nie gegeben: Ein örtliches Bahnhofsprojekt spaltet ein ganzes Land. Stuttgart21 mit dem dicken roten Strich ist zum Synonym für das Aufbegehren von Bürgern gegen den Bau von Großprojekten geworden. Erst in Schwaben, dann in Berlin gegen die Flugrouten und in München gegen eine dritte Start- und Landebahn. Als sich Befürworter und Gegner über Sinn und Unsinn der Verlegung des Stuttgarter Kopfbahnhofs unter die Erde hoffnungslos bis hin zu Gewaltausbrüchen zerstritten hatten, fiel ihnen etwas Grandioses ein. Sie holten sich einen Schlichter, der die Gemüter beruhigen und den Weg zur Verständigung weisen sollte. So rückte der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geissler noch einmal ins Rampenlicht und spielte seine Rolle als ehrlicher Makler ziemlich überzeugend. Auch weil er seinem neuen Ruf, politisch nur noch schwer einzuordnen zu sein, gerecht geworden ist. So gelang schließlich die Verständigung auf einen Stresstest - noch so ein Schlagwort, das bundesweit Schule gemacht hat - durch ein neutrales Schweizer Ingenieurbüro. Seit das Ergebnis gestern auch offiziell vorgestellt wurde, ist es allerdings wieder vorbei mit dem großen demokratischen Experiment, als das das gesamte Schlichtungsverfahren gepriesen wurde. Wenn sich Gegner und Befürworter auf die demokratische Spielregel einlassen und einvernehmlich einen neutralen Gutachter bestimmen, um das Milliardenprojekt auf seinen Nutzen hin zu testen, darf der Protest gegen Stuttgart21 nicht von vorn beginnen, wenn den Bahnhofsgegnern das Ergebnis nicht passt. Das aber zeichnet sich ab. Die Wortführer der Protestbewegung bereiten das Feld für neue Auseinandersetzungen vor, wenn sie den Stresstestern mangelnde Seriosität, Manipulation, gar einen finanziellen Interessenkonflikt mit der Deutschen Bahn vorwerfen. Damit ist die Schlichtung letztlich gescheitert. Auch Heiner Geissler mit seinem großen ehrenwerten Ziel, Deutschland vom Wert eines neuen demokratischen Verfahrens zu überzeugen. Daran wird selbst ein von ihm am Ende aus dem Hut gezauberter Kompromissvorschlag schwerlich etwas ändern. Deutschland muss dennoch aus den Erfahrungen rund um Stuttgart21 lernen. Es darf gar nicht erst - bei welchem Großprojekt auch immer - so weit kommen wie im Schwabenland. Die betroffenen Bürger müssen frühzeitig informiert, in die Planung einbezogen und von der Notwendigkeit des Vorhabens überzeugt werden. Die Investoren andererseits müssen willens sein, Bedenken ernst zu nehmen und Alternativen gewissenhaft zu prüfen. Es reicht nicht mehr, große Bauvorhaben öffentlich auszuhängen, vorgeschriebene Anhörungen wie Pflichtveranstaltungen über sich ergehen zu lassen und sich ansonsten in den Paragrafendschungel des deutschen Baurechts zurückzuziehen. Eine Bewährungsprobe steht schon bevor: der Ausbau alternativer Energien als Ersatz für Atomstrom. Berlin übrigens liefert in diesem Zusammenhang positive wie negative Lehrbeispiele. Einerseits der neue Hauptbahnhof, gut inszeniert, freudig erwartet und noch immer gelobt. Andererseits die Flugrouten am künftigen Großflughafen, über die die Berliner weiter im Unklaren gelassen werden.
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