BERLINER MORGENPOST: Anders Breivik hat Europa nicht begriffen - Leitartikel
Berlin (ots)
Der 32 Jahre alte Mann aus Oslo, dessen Name für immer der Verachtung anheimgefallen ist, hat mit seinem Massenmord eine Diskussion über das Abendland Europa anstoßen wollen. Diese Diskussion wird er bekommen, aber nicht so, wie er sie sich vorstellt - als Konfrontation zwischen dem Christentum und dem Islam. Er wird sie bekommen als eine Debatte über den Umstand - den oft belastenden Umstand! -, dass es für die Beschreibung der heutigen Welt keine Schwarz-Weiß-Erklärungen gibt. Er wird sie bekommen als Vergewisserung dessen, dass eine offene Gesellschaft nicht funktioniert, wenn in ihr starres Gruppendenken herrscht, mit unverrückbaren Feindbildern oder mit kritiklosen Freundbildern. Er wird sie bekommen als Diskussion über geistige Toleranz als Bürgertugend, über Meinungsfreiheit ohne Häme und über die Verantwortungslosigkeit derer, die der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider in Berufung auf Luther den "in sich verkrümmten Menschen" genannt hat, einen Menschen, der keiner Moral mehr zugänglich ist. Der geständige Massenmörder von Oslo war in sich verkrümmt; er war selbstmitleidig und folgerichtig mitleidslos. In seinem Pamphlet beschreibt er mit kalter Intelligenz ein Zerrbild unseres Kontinents. Für seine Weltsicht gilt der Satz aus Goethes "Faust": "Er nennt's Vernunft und braucht's allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein." Das in seiner Perfidie und Grausamkeit singuläre Verbrechen von Oslo und Utøya wurde durch einen Menschen begangen, der wie Osama Bin Laden darauf gesetzt hat, dass seine Tat und sein Wort bis in den letzten Winkel verbreitet würden. Er hielt seine Mitmenschen für feige Weichlinge, die darum mit seiner Botschaft schon tun würden, was er sich in dieser Hinsicht von ihnen erwartete. Eine offene Gesellschaft, die mit der Macht des Wortes gesteuert wird und in der das freie Wort höchsten Wert hat, für grundsätzlich feige zu halten, ist einer der Irrtümer, die Menschen wie Anders Breivik zu ihren Verbrechen bringt. Die offene Gesellschaft ist nicht feige, sie ist mutig wie kaum eine andere Ordnung vor ihr. Sie vertraut auf die moralische Vernunft des Einzelnen. Die Gleichheit vor dem Gesetz und damit füreinander ist die Basis eines Europas, das seit 1945 auf dem früheren Kriegskontinent allmählich Gestalt annimmt. Der Hass auf Gruppen, Freund-Feind-Bilder, Abgrenzungsdenken bringen eine solche Gesellschaft zum Stillstand. Das gilt für das Zusammenleben insgesamt. Die demokratische Gesellschaft steht und fällt deshalb mit dem Schwierigsten überhaupt - mit der Offenheit im Kleinsten, mit der moralischen Ehrlichkeit des Einzelnen gegenüber sich selbst. Bei dieser Aufgabe hat der Massenmörder versagt. Frei von Fehlern und Schuld ist niemand, und konstruktiv Gutes bewirkt keiner, der sein Ziel nur dadurch definieren kann, indem er sich über andere erhebt. Die Trauer über sein Verbrechen wird mit der Erzählung von Europa als schöpferischem Akt enden, einem Kontinent, der aus seiner Geschichte genug gelernt hat, um Hass als politisches Programm im Keim zu ersticken. Der Täter, der dieses Europa aus dem Geist der antiken Polis nicht begriffen hat, bleibt von der Debatte ausgeschlossen, und das Gegenteil seiner Fantasien wird außerhalb seiner Gefängnismauer Wirklichkeit werden. So ist es den Nazis bereits ergangen, und wenn es eine gerechte Strafe für Massenmörder geben kann, dann ist dies Teil von ihr.
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