BERLINER MORGENPOST: Ein Urteil, das zornig macht - Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Richterschelte macht sich nicht gut in einem Rechtsstaat. Denn Richter sind unabhängig; allein dem Gesetz und dessen Paragrafen verpflichtet. Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens allerdings haben sie einen Ermessensspielraum - nach oben und nach unten. Und da stoßen dann nicht selten die Meinungen zwischen Juristen und Bürgern hart aufeinander. Denn ein Urteil, das rechtlich vertretbar ist, muss keineswegs auch als gerecht empfunden werden. Gestern ist wieder so ein Richterspruch verkündet worden, der zum Widerspruch herausfordert. Er reiht sich in andere Urteile der vergangenen Wochen ein, die von mehr Nachsicht mit den Tätern als von Gerechtigkeit für die Opfer und deren Angehörige künden. Und die bei vielen Berlinern auf Unverständnis stoßen. Dass der 21-jährige Ali. T., der einen anderen Jugendlichen im U-Bahnhof Kaiserdamm erst grundlos attackierte, den Flüchtenden weiter verfolgte und so mitschuldig an dessen Tode wurde, mit einer Bewährungsstrafe davonkommen soll, ist schwer begreiflich. Zumal der Täter kein unbeschriebenes Blatt ist. Bereits vor drei Jahren war er wegen räuberischer Erpressung zu Jugendarrest verurteilt worden. "Der Angeklagte muss lernen, dass die Begehung von Gewaltdelikten im öffentlichen Raum spürbare Konsequenzen nach sich zieht", schrieb damals seine Richterin in das Urteil. Nichts hat Ali dazugelernt. Und seine gestrigen Richter leider auch nicht. Die Richterin, die 2008 Ali T. zu Jugendarrest verdonnert hat, hieß Kirsten Heisig. Jene mutige Richterin aus Neukölln, die nicht achselzuckend hinzunehmen bereit war, dass jugendliche Rechtsbrecher durch zu viel Nachsicht ungebremst in eine kriminelle Karriere abstürzen. Mahnung und Warnung Kirsten Heisigs, die vor zwei Jahren freiwillig aus dem Leben schied, werden leider noch immer viel zu oft von Richtern ignoriert, die die Berliner Realitäten nicht wahrhaben wollen. Das von Verdrängung samt folglicher Milde geprägte Urteil gegen Ali. T. reiht sich unrühmlich ein in einen erst vor zwei Wochen gefällten Richterspruch. Durch ihn kam ein 45-Jähriger ebenfalls mit einer Bewährungsstrafe davon, obwohl er sich als Schutzbefohlener jahrelang an Jugendlichen sexuell vergangen hatte. Das Urteil ist Teil der juristischen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bei der Parkeisenbahn Wuhlheide. Ehrenamtliche Helfer haben sich dort im Rahmen eines Jugendhilfeprojekts über Jahre an jugendlichen Hobby-Eisenbahnern vergriffen. Auch dies ein Urteil, das zumindest Nichtjuristen zornig werden lässt. Jugendliche werden Helfern anvertraut, dann zu deren Opfern, und der Täter kommt zumindest in diesem Fall mit einer bescheidenen Geldstrafe davon. Das ist streng juristisch betrachtet wohl erlaubt. Aber ist es auch gerecht gegenüber einem Opfer, das jahre-, wenn nicht lebenslang an dem leidet, was ihm angetan wurde? Es geht in beiden Fällen nicht um Rache. Aber Teile der Berliner Justiz tun sich offenbar schwer damit, nicht nur dem Täter, sondern auch dessen Opfer gerecht zu werden. Richter sind unabhängig. Sie dürfen Recht allerdings auch nicht in einem quasi gesellschaftlichen Freiraum sprechen.
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