BERLINER MORGENPOST: Leitartikel von Hajo Schumacher: Merkel und das Mädchen
Berlin (ots)
Zunächst ein Lob für diese Bürgerformate. Ob die Kanzlerin bei einem Forum über Ehe unter Gleichgeschlechtlichen rumeierte, ob das Blogger-Interview mit LeFloyd letzte Woche, das viele schöne kleine Momente hatte, oder eben jetzt bei der Diskussion in Rostock - wir erleben Überraschendes und Ungeplantes. Da es bei diesem Video so viel um Mitgefühl geht: Ich habe durchaus Mitgefühl für eine Frau von 61 Jahren, die Brüssel hinter sich hat, erst mal, und heute eine hoch heikle Bundestagsabstimmung vor der Nase, wegen Rettungspaket 3. Die Erschöpfung, die Augenringe waren deutlich zu erkennen, andere Politiker sagen so was einfach ab. So, das war der Empathieblock. Jetzt zu dieser Szene in Rostock: Man sollte sie sich übrigens die ganzen elf Minuten angucken - wieder viele Momente der Echtheit, auch und gerade in der Hilflosigkeit von Angela Merkel. Ja, wir erleben das Beklemmende unserer Einwanderungspraxis, das natürlich politisch längst gelindert hätte werden können. Wir erleben an diesem Mädchen aber auch gelungene Integration, und das dort, wo vor 20 Jahren der Pöbel grölte, in Lichtenhagen. An Rostock erleben wir auch ein seit Jahrzehnten schwelendes, gern ignoriertes Problem. Es geht um 300.000 bis 400.000 Menschen, die seit Generationen in Flüchtlingslagern leben, als Geiseln des Nahost-Konflikts, weitgehend ohne Rechte, sie dürfen auch nicht die libanesische Staatsbürgerschaft annehmen. Sie sollen ja Palästinenser bleiben, um den Druck auf Israel hoch zu halten. Diese Menschen bekommen nicht ohne Weiteres Asyl hier, weil sie nicht in konkreter Lebensgefahr schweben. Diese Menschen leben hier, sie dürfen aber genauso wenig wie im Flüchtlingslager in der Wüste. Natürlich hätte der Vater dieses Mädchens als Schweißer arbeiten können, unter Auflagen. Überall werden Handwerker gesucht. Und wenn er gut ist, sagen wir nach drei Jahren, dann hätte er einen Einwanderungsantrag gestellt, den Arbeitgeber und Behörden befürworten, zumal die Tochter ja offenkundig gut zurechtkommt. Wenn dieses Video diesen kleinen Schritt beschleunigen würde, dann hätte der Dialog mit dem Bürger mal einen Sinn, jenseits des Showeffekts.
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