BERLINER MORGENPOST: Leitartikel von Joachim Fahrun zu den Plänen des Berliner Senats, Flüchtlingsunterkünfte auf dem Tempelhofer Feld zu bauen: Tempelhof statt Turnhallen
Berlin (ots)
Die Flüchtlingskrise stellt viele Gewissheiten infrage. Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass wir es akzeptabel finden würden, 1000 Menschen wochenlang in einer riesigen Halle auf Feldbetten schlafen zu lassen? Von kleinen, dezentralen Heimen, die eine Integration der Menschen erleichtern, ist schon lange keine Rede mehr. In der Erwartung von voraussichtlich bis zu 80.000 Flüchtlingen in diesem Jahr allein in Berlin macht auch der Senat ein politisch hochbrisantes Thema wieder auf: die Bebauung des Tempelhofer Feldes, die das Volk vor kaum anderthalb Jahren mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt hatte. Natürlich weckt das den Argwohn, die Volksentscheid-Verlierer um den Regierenden Bürgermeister Michael Müller wollten den Willen des Souveräns nachträglich beugen. Der Verdacht ist auch nicht unberechtigt. Schließlich haben Müller und sein Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel das umkämpfte Feld nie völlig aus den Augen gelassen bei ihrer Suche nach geeigneten Flächen für preisgünstigen Wohnungsneubau. Aber der Druck durch die ohnehin wachsende Bevölkerung hat sich durch die vielen Flüchtlinge noch einmal potenziert. Die Berliner müssen sich fragen, ob sie die Entscheidung gegen Wohnungen auf dem Tempelhofer Feld mit dem Wissen von heute noch einmal so treffen würden wie im Mai 2014. Damals ging es auch gegen eine intransparente Planung, schlechte Kommunikation, ein ungeliebtes Großprojekt Zentralbibliothek und einen Regierenden Bürgermeister Wowereit, den die Stadt nicht mehr wollte. Wer einmal eine Notunterkunft oder Erstaufnahmestelle besucht und die Bilder der Flüchtlings-Karawane auf dem Balkan gesehen hat, versteht, dass man den Platz auf dem Feld womöglich nutzen sollte, um die akute Krise zu lindern. Der Senat muss seine Pläne aber gut begründen und aufhören, Versteck zu spielen. Die Politiker müssen klar sagen, was uns erwartet. Bei 600.000 Menschen, die die UN bis Februar 2016 auf der Balkanroute schätzen, sollte sich niemand Illusionen machen. Bisher hat der Sozialsenator noch jede jemals angedachte Unterbringungsmöglichkeit unter dem Druck der Realitäten irgendwann herangezogen. Und ehe weitere Schulturnhallen belegt werden, sind Mobilbauten oder Traglufthallen in Tempelhof sicher die bessere Lösung. Aber nichts wird helfen, wenn der Zustrom von Menschen ungebremst anhält. Dann sind irgendwann Hangars, Turnhallen und das Tempelhofer Feld voll. Die Bundesregierung hat das dramatische Problem zu lange ignoriert. Jetzt endlich ist es dort angekommen, wo es schon vor Monaten hingehört hätte: bei der Bundeskanzlerin und den Spitzen der Koalition. Dabei ist Realitätssinn gefordert. Die deutschen Systeme für die Aufnahme von Asylsuchenden haben sich als bürokratische Farce entlarvt. Menschen werden gar nicht oder mehrfach registriert; wenn sie abgeschoben werden sollen, sind viele nicht auffindbar; Verfahren ziehen sich über Jahre hin. Registrierung und Aufnahme zu zentralisieren, wie es die drei Parteichefs von CDU, CSU und SPD jetzt beschlossen haben, ist deshalb richtig, ob diese Einrichtungen nun Transitzonen oder anders heißen. Die Flüchtlinge müssen einen Anreiz haben, sich einem geordneten Verfahren zu unterziehen. Auch wenn das dazu führen kann, dass viele von ihnen Deutschland schnell wieder verlassen müssen. Ob die Einigung in der Koalition diese Anforderung erfüllt, muss die praktische Umsetzung zeigen. Es muss gelingen, ein Zeichen in die Herkunftsländer zu senden. Für alle, deren Leben nicht direkt durch Verfolgung und Krieg bedroht ist, lohnt es sich eben doch nicht, sich auf den Weg zu machen. Nur dann wird es möglich sein, den Bürgerkriegsopfern Schutz und Obdach zu gewähren. Und sei es erstmal in Traglufthallen auf dem Tempelhofer Feld.
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