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Leitartikel von Jörg Quoos zu den Volksparteien
Berlin (ots)
Kurzform: Den Volksparteien sind immer dann große Wahlsiege gelungen, wenn sie charismatische oder extrem erfolgreiche Vorsitzende hatten. Wenn es an beidem fehlt - Charisma und Erfolg - wird es schwierig, die Massen zu begeistern. Starke Volksparteien sind nicht schlecht, sondern gut für eine stabile Demokratie. Aber sie müssen sich neu erfinden. Viel Zeit bleibt ihnen dazu nicht mehr.
Der vollständige Leitartikel: Es gibt einen Niedergang der Volksparteien, der in der Öffentlichkeit mit bemerkenswerter Häme begleitet wird. "Wer braucht heute noch Volksparteien?", fragte eine große Sonntagszeitung. Die Antwort wurde gleich mitgeliefert. "Aber wer braucht eigentlich ein Sammelsurium von Klientelparteien?", möchte man zurückfragen. Sind diese wirklich in der Lage, eine bessere und stabilere Politik zu liefern? Es ist nicht zwingend logisch, dass die Anhäufung von Einzelinteressen besser geeignet sein soll, die Verhältnisse für die breite Masse zu verbessern oder gar das auseinandertreibende Europa zusammenzuhalten. Ja, Union und SPD erodieren - aber es gibt gleich mehrere Gründe dafür. Zum einen sind die Parteien überraschend mutlos, ideenarm und zunehmend unfähig, für ein breites Meinungsspektrum in den eigenen Reihen zu sorgen. In einer großen Koalition potenziert sich dieser Effekt noch, daher schreitet der Attraktivitätsverlust besonders zurzeit besonders schnell voran. Zum anderen sind die Führungspersönlichkeiten von ihrer Basis erkennbar entrückt. Den Volksparteien sind immer dann große Wahlsiege gelungen, wenn sie charismatische oder extrem erfolgreiche Vorsitzende hatten. Wenn es an beidem fehlt - Charisma und Erfolg - wird es schwierig, die Massen zu begeistern. Erfolge kann man Angela Merkel schwer absprechen, auch wenn ihre Bilanz durch das problematische Laissez-faire in der Einwanderungspolitik getrübt ist. Aber der Kanzlerin ist die Leidenschaft zum Diskurs abhandengekommen. Selbst treueste Gefolgsleute Merkels räumen ein, dass die Vorsitzende auf ihrem Weg in Richtung Mitte der Gesellschaft die Ränder der Partei vernachlässigt hat. Das christliche Arbeitnehmerlager wie den konservativen Teil der Partei. Ohne anstrengende Querköpfe mag es für Angela Merkel zwar angenehmer zu regieren sein. Aber der CDU fehlt die Spannung, die am Ende Kraft erzeugt. Wenn Abgeordnete in der Unionsfraktion von unten an ihre Tische klopfen, damit man ihren Beifall für Merkels Gegner nicht sehen kann, läuft etwas falsch in der Partei. Die Kanzlerin erklärt die schwierige Lage der Partei mit der anhaltenden Diskussion um die Flüchtlingspolitik. Dabei wird anders ein Schuh daraus. Hätte Angela Merkel früher auf ihre Top-Beamten und Kritiker gehört, wären das Unwohlsein und die Unzufriedenheit der Menschen sicher weniger groß. Bei den Sozialdemokraten ist die Lage noch dramatischer. Die Art und Weise, wie Andrea Nahles innerparteiliche Kritiker behandelt, wird kaum neue, veränderungswillige Leute in die Parteiführung locken. Der Juso-Chef? Für den Vorstand eine Nervensäge, die schön auf Abstand gehalten wird. Überhaupt sind profilierte Mahner kaltgestellt, haben keine Lust mehr auf Klassenkeile oder sind in den Ruhestand versetzt - Sigmar Gabriel lässt grüßen. Die Partei ist derzeit wie ein Schiff mit Kurs auf gefährliche Klippen - und auf der Brücke halten sich alle Augen und Ohren zu, in der Hoffnung, dass die Felsen den Weg freimachen. Der Aufprall könnte aber schon am nächsten Sonntag bei der Hessen-Wahl kommen. Laut Nahles findet ihre siebenjährige Tochter übrigens Geisterbahnen schockierender als den Zustand der SPD. Nur gut, dass die Kleine noch keine Meinungsumfragen lesen kann. Starke Volksparteien sind nicht schlecht, sondern gut für eine stabile Demokratie. Aber sie müssen sich neu erfinden. Viel Zeit bleibt ihnen dazu nicht mehr.
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