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BERLINER MORGENPOST: Merkel wagt zu viel
Leitartikel von Jörg Quoos zu Merkel

Berlin (ots)

Kurzform: Merkels Entscheidung ist kein "vertretbares Wagnis", wie sie es öffentlich verklärte. Es ist der verständliche Versuch, nach vier gewonnen Wahlen als Kanzlerin einen würdigen Abgang hinzubekommen. Die Chancen darauf stehen aber denkbar schlecht. Der Druck auf die Kanzlerin wird nicht nachlassen, sondern zunehmen. Das war schon nach Merkels Rückzugsankündigung zu spüren. Der Satz Christian Lindners, Merkel gebe "das falsche Amt" ab, wird Wirkung zeigen. Bei ihren parteiinternen Gegnern, aber auch in der Öffentlichkeit. Es spricht viel dafür, dass Merkel ein quälender Abschied bevorsteht. Sie hat die Regie über den letzten Akt ihrer Kanzlerschaft abgegeben. Der Zeitpunkt für einen gelungenen Ausstieg ist endgültig verpasst.

Der vollständige Leitartikel: Am Ende war der Druck einfach zu groß. Dass Angela Merkel ihr eisernes Prinzip "Parteivorsitz und Kanzlerschaft gehören zusammen" aufgibt, ist eine politische Sensation und das öffentliche Eingeständnis: Ich schaffe es nicht mehr! Die sonst so berechenbare Kanzlerin setzt ihr eigenes Dogma außer Kraft und will einfach weitermachen. Das erinnert an den Ausstieg aus der Atomkraft, mit dem die gelernte Physikerin die eigene Überzeugung beiseitefegte und dem Druck einer breiten Öffentlichkeit nachgab, um ihre Regierung zu retten. Und jetzt will Angela Merkel ausgerechnet das tun, was nach ihrer eigenen Analyse nie funktionieren konnte: Deutschland regieren, ohne gleichzeitig die Macht über die Partei zu haben. Merkels Entscheidung ist kein "vertretbares Wagnis", wie sie es gestern öffentlich verklärte. Es ist der verständliche Versuch, nach vier gewonnen Wahlen als Kanzlerin einen würdigen Abgang hinzubekommen. Die Chancen darauf stehen aber denkbar schlecht. Der Druck auf die Kanzlerin wird nicht nachlassen, sondern zunehmen. Das war schon nach Merkels Rückzugsankündigung zu spüren. Der Satz Christian Lindners, Merkel gebe "das falsche Amt" ab, wird Wirkung zeigen. Bei ihren parteiinternen Gegnern, aber auch in der Öffentlichkeit. Die Kanzlerin hat mit ihrem überraschenden Schritt Schwäche gezeigt. Warum soll der Druck auf sie jetzt abnehmen? Schwächeanzeichen der Herrschenden waren seit Menschengedenken schon immer der Auftakt und nicht das Ende einer politischen Jagd. Wie groß das Wagnis für Merkel wird, zeigt der Blick auf die Bewerber für den Parteivorsitz. Jens Spahn, zurzeit Gesundheitsminister und der einzige Spitzenpolitiker, der jetzt schon offen sagt, dass er auch Kanzlerambitionen hat, wäre als Parteichef für die Kanzlerin denkbar unbequem. Spahn ließ bislang keinen Zweifel daran, wie wenig er von Merkels Politik hält. Diese Aufmüpfigkeit hat Merkel lange Zeit mit Missachtung bestraft. Spahn durfte erst Minister werden, als Merkel zu schwach war, ihm ein gewichtiges Amt zu verwehren. Friedrich Merz, dessen Kandidatur erst inoffiziell vorliegt, wäre der Albtraum Merkels. Der Sauerländer hat seit vielen Jahren eine Rechnung mit der Kanzlerin offen. Sie hat ihn 2002 als erfolgreichen Fraktionschef abserviert, um selbst das Machtzentrum der Unionsabgeordneten zu führen. Merz stieg tief enttäuscht aus der aktiven Politik aus. Unvorstellbar, dass sich ein CDU-Chef Merz Alleingänge einer Kanzlerin von seinen Gnaden gefallen ließe. Andersherum ist wenig wahrscheinlich, dass Merkel auf das Kommando von Merz hören würde. Nur bei Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer wäre vorstellbar, dass das Wagnis klappt. Parteichefin und Kanzlerin könnten tatsächlich wie bereits heute harmonisch kooperieren. Einvernehmlich könnten die beiden Frauen auch die Übergabe der Kanzlerschaft regeln. "AKK" hat genau auf diesen Moment hingearbeitet. Sie hat das angenehme Amt einer Ministerpräsidentin aufgegeben und sich als Generalsekretärin ins Schlachtengetümmel geworfen. So etwas macht man nur, wenn man höhere Weihen anstrebt. Aber ob AKK die Mehrheit der Delegierten hinter sich bringt, ist alles andere als sicher. Der Ruf, eine Politik wie Merkel zu betreiben, ist nach den Chaos-Wochen in der Union eher ein Malus als Bonus für mögliche Nachfolger. Es spricht also viel mehr dafür, dass Merkel ein quälender Abschied bevorsteht. Sie hat die Regie über den letzten Akt ihrer Kanzlerschaft abgegeben. Der Zeitpunkt für einen gelungenen Ausstieg ist endgültig verpasst.

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